Freitag, 11. Oktober 2019

Sie war eine Maria Magdalena

Auferstehung ist die Erfahrung von Transformation: Wo ich dem Anderen Raum gebe – seiner Einzigartigkeit, seiner Kompliziertheit, seinem Schöpferischen, auch seiner Widerborstigkeit - da geschieht Wandlung. Gedanken bei der Bestattung einer Künstlerin.

Von Peter Otten

Joh 20, 1; 11-18: 1 Am ersten Tag der Woche kam Maria von Magdala frühmorgens, als es noch dunkel war, zum Grab und sah, dass der Stein vom Grab weggenommen war. (…) 11 Maria aber stand draußen vor dem Grab und weinte. Während sie weinte, beugte sie sich in die Grabkammer hinein. 12 Da sah sie zwei Engel in weißen Gewändern sitzen, den einen dort, wo der Kopf, den anderen dort, wo die Füße des Leichnams Jesu gelegen hatten. 13 Diese sagten zu ihr: Frau, warum weinst du? Sie antwortete ihnen: Sie haben meinen Herrn weggenommen und ich weiß nicht, wohin sie ihn gelegt haben. 14 Als sie das gesagt hatte, wandte sie sich um und sah Jesus dastehen, wusste aber nicht, dass es Jesus war. 15 Jesus sagte zu ihr: Frau, warum weinst du? Wen suchst du? Sie meinte, es sei der Gärtner, und sagte zu ihm: Herr, wenn du ihn weggebracht hast, sag mir, wohin du ihn gelegt hast! Dann will ich ihn holen. 16 Jesus sagte zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um und sagte auf Hebräisch zu ihm: Rabbuni!, das heißt: Meister. 17 Jesus sagte zu ihr: Halte mich nicht fest; denn ich bin noch nicht zum Vater hinaufgegangen. Geh aber zu meinen Brüdern und sag ihnen: Ich gehe hinauf zu meinem Vater und eurem Vater, zu meinem Gott und eurem Gott. 18 Maria von Magdala kam zu den Jüngern und verkündete ihnen: Ich habe den Herrn gesehen. Und sie berichtete, was er ihr gesagt hatte.

Am Sonntag haben wir gesprochen, und als ich zu euch kam, hattet ihr den Tisch gedeckt mit allem, was Menschen brauchen um satt zu werden: Fisch und Eier, Brot und Butter, Marmelade und Käse. Alle sprachen. Ihr habt erzählt, wie es euch geht. Ein paar Tränen sind geflossen. Ihr habt von euren Erinnerungen an die Verstorbene erzählt. Erzählen, erinnern, essen, gegenwärtig werden. Eigentlich habt ihr das gemacht, was schon die ersten Christen gemacht haben, als sie sich in der Häausern und Wohnuneg getroffen haben. Ihr habt Gottesdienst gefeiert. Dasselbe, was wir eine Stunde vorher noch in der Agneskirche getan hatten.


Erzählen, erinnern, essen schafft Gegenwart. Nichts anderes ist Gottesdienst.

Und so ist in eurem Erzählen etwas Wunderbares gelungen: Einen verstorbenen Menschen gegenwärtig werden zu lassen – auch mir, den ich ihn gar nicht gekannt habe. Ihr habt mir geholfe, dass ich heute ein paar Schlaglichter der Verstorbenen setzen kann.

1. Sie war eine Künstlerin.


Eine atemberaubende Geschichte: Die kleine T. ist in der Schule. Sie sitzt in ihrer Klasse. Es geht um die Hausaufgaben. Ein Aufsatz war aufgegeben. T. wird aufgerufen. Sie steht auf, schlägt das Heft auf und blickt auf leere Seiten. Denn sie hat nichts geschrieben. Trotzdem beginnt sie zu sprechen und entwickelt auf die leeren Seiten blickend einen formvollendeten Aufsatz im Sprechen. Stellt euch diesen Mut, diese Phantasie, diese Neugier, diese Kreativität, dieses Schöpferische – aber sicher auch die Angst, den Zweifel in dem kleinen Mädchen vor! Ist das nicht wirklich großartig? Vielleicht liegt in dieser kleinen Geschichte wie in einem Zellkern das Feuer, die Glut, der Grund ihrer Persönlichkeit: eine Künstlerin zu sein. Was sie ja auch war, als Werkstudentin in Wuppertal, als Schülerin von Klaus Staeck, in ihrem künstlerischen Schaffen. Vielleicht ist das der Urgrund, auf dem sie gehen konnte: das kleine Mädchen an ihrem Schultisch mit dem leeren Heft. Der Anfang der Schöpferin T. Ihre grenzenlose Phantasie, die täglich auch in ihrem Alltag aufflammte. In ihrer Gabe der Adaption, der Transformation, des Querdenkens. In einem Menschen, einem Gegenstand, einer Beziehung nie nur das Offensichtliche, Oberflächliche zu sehen, sondern immer auch das Neue, das Andere. Eine optimistische, zugewandte, lebensfohe Haltung.
 

2. Sie liebte Freiheit und Autonomie. Sie kämpfte dafür. Auch für die Freiheit und die Autonomie von anderen.

Menschen haben über die Verstorbene gesagt: "Sie geht uns allen auf die Nerven. Aber es geht ihr immer um die Sache." Beharrlichkeit, Eigeninitiative, Auf-den-Grund-Gehen, Nachfragen, sich nicht vorschnell zufriedengeben – Eigenschaften der Verstorbenen. Dahinter steckte die Einsicht, dass der Mensch einen Ort, einen Platz, ein Gesicht haben muss. Das, was den Menschen ausmacht muss sichtbar werden. Denn der Mensch, der andere ist ja unverwechselbar, einzigartig, ein Segen – ein Künstler. Hier klingt die Beschäftigung mit Joseph Beuys an. Jeder Mensch ist ein Künstler. Jeder Mensch ist ein Kreator. Ein Schöpfer seiner Gedanken, Worte und Werke. Die diese Welt verwandeln und zu einem gastlichen Ort machen. Hier klingt der unbedingte Wert eines jeden Menschen an, der für die Verstorbene selbstverständlich war und den sie immer verteidigt hat. „Du bist gut so, wie du bist!“ Das hat sie gelebt, das hat sie aber auch ihre Familie spüren lassen. Der Mensch darf anders, individuell, besonders sein. Er darf sich wehren. Er darf nachfragen. Er darf und muss auch streiten. Das alles kann er - weil er ein einzigartiger Schöpfer ist.
 

3. Sie stiftete Gemeinschaft und glaubte an die Wirksamkeit von Gemeinschaften und Netzwerken.

Die Verstorbene hat sich mit der Idee der sozialen Plastik von Beuys beschäftigt. Sie besagt: Das Schöpferische der einzelnen Menschen verbindet sich und entfaltet ungeheure Kraft. Daran hat sie geglaubt, das hat sie probiert: In ihrer künstlerischen Arbeit. In dem Pflegen von Netzwerken in ihrer Nachbarschaft. In ihrem persönlichen Umfeld. Beispielsweise auch durch das Wunder, als sie ihren Mann, von dem sie getrennt lebte, „wiedererkannte“ als er in Not war. Somit eine Transformation von Liebe lebte und damit eine Form von tiefer Solidarität sichtbar machte, die ihr grundsätzlich sehr wichtig war – bis hinein in politische Fragen. Sie hatte einen unglaublichen Sinn für Gerechtigkeit.
 

4. Sie war die Frau mit dem Hut.

Sie hatte unzählige Hüte. Ihre Enkelinnen haben davon erzählt. Die Oma mit dem Hut. S. hat ein Bild gemalt, in dem die Oma gar nicht zu sehen ist, sondern nur ein Hut, der auf dem Boden liegt. Ein Hut schützt, ein Hut hebt aber auch heraus, setzt einen Unterscheidungsmarker. Er steht für Individualität, für das Besondere, das Einzigartige. Der Hut ist vielleicht ein Symbol dafür, dass der Andere anders sein darf als ich, weil er ja nur im Anderssein er selbst ist. Das hat die Verstorbene auch an euch weiter gegeben, denn ich finde, ihre Kinder und Enkelinnen sind selbst starke unverwechselbare Menschen mit Hut.

Womit wir zum letzten Punkt kommen: Was macht heute Hoffnung?

Wir haben am Sonntag bei euch am Küchentisch über Auferstehung gesprochen. Und als wir sprachen ist mir diese Geschichte aus dem Johannesevangelium eingefallen. Maria macht sich auf, um den verstorbenen Jesus zu besuchen. Faszinierend ist, dass sie sich keine Gedanken macht, wie sie den Stein vom Grab wegräumen kann. Das ist ja ein riesiger Brocken. Die Geschichte sagt, sie geht los, kommt an und der Brocken ist weg. Sie macht sich keine Gedanken über die Hindernisse. Sie vertraut darauf, dass es eine Lösung geben wird. Wie viel Lebenskraft steckt in dieser Maria!

Jesus ist verschwunden. Aber dort, wo sein Kopf war und dort, wo seine Füße waren sitzen Engel. Sie sind "Agenten der Transformation." Sie helfen Maria, nicht weil sie belehren, sondern weil sie Fragen stellen: "Warum weinst du?" So helfen sie Maria, indem sie sagen: "Wenn du dem Heil begegnen willst, musst du Augen haben für das Schöpferische, für die Veränderung. Du musst deine Bilder, Beziehungen, Grundsätze verwandeln lassen können. Diese Haltung ist wichtig. Und dann sind Brocken und Felsen kein Problem mehr. Du musst breit sein, Jesus, das Göttliche, das Heil nicht in einem Schrein, einer Monstranz, einem Kästchen festhalten zu wollen. Du musst bereit sein, den Engel in deinem Leben anzuschauen, der deine Sicht verwandelt."

Die Erkenntnis bei Maria kommt durch das Angesprochenwerden mit ihrem Namen: "Maria!" Sagt Jesus. Nun erkennt diejenige, die immer für die Autonomie gekämpft hat, die selbst immer andere mit Namen angesprochen hat, die aber immer auch anders war – Maria Magdalena, eine Frau,die sich den Selbststand in der Gruppe der Anhänger Jesu immer erkämpfen musste, das Heilende:  Es beginnt, wo ich dem Anderen Raum gebe – seiner Einzigartigkeit, seiner Kompliziertheit, seinem Schöpferischen, auch seiner Widerborstigkeit.
 

Als Maria das versteht zieht sie los und kann nach dieser Transformationserfahrung vom heilenden Leben erzählen. "Ich habe den Herrn gesehen, den Gottmenschen, durch den das Heil in die Welt kam."

In dieser Maria-Magdalena-Geschichte sehe ich T. Sie war eine Maria Magdalena. Und vielleicht seht ihr euch auch in dieser Maria. Ich wünsche euch diese Heilserfahrung, Transformationserfahrung, Auferstehungserfahrung, die ihr ja in der Familie schon im gemeinsamen Tragen in der Krise gespürt habt. 


Das hat die Verstorbene verstanden. Und ihre Welt verwandelt. Sie ist anders, schöner, interessanter, liebevoller, als sie ohne sie wäre. Das Grab ist offen. Die Welt steht offen, steht euch offen. Das ist Auferstehung.

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