Samstag, 21. April 2012

Mut zum Experiment

Foto: pixelio/Rolf van Mehlis
Auf der Suche nach neuen Strukturen: In fast allen Bistümern beklagen die Gemeinden den Mangel an Mitverantwortung und Mitbeteiligung. Neue Wege gehen müssen sie aber auf jeden Fall.

Das Leben in Kirchdörfern im Bergischen Land zwischen Wipperfürth und Bergisch Gladbach ist noch immer durch eine Melange aus Gesang- und Schützenvereinsleben, Nachbarschaftshilfe und Vereinsfußball geprägt. Der eigene Kirchturm war da stets wie ein Fels in der Brandung, ein Identitätsmerkmal, erzählen Menschen, die dort wohnen.
Christian Heider hat sich lange im Pfarrgemeinderat eines solchen Dorfes mit etwa 2000 Einwohnern engagiert. Vor etwa zwei Jahren wurde die Fusion mit vier anderen Dörfern vorbereitet und der Priester ging. Damit entfiel auch der Gottesdienst am Sonntag. Stattdessen gibt’s eine Messe samstags um 17 Uhr. »Ganz ehrlich«, sagt der Mittvierziger, »da sitze ich mit meinen Kindern im Garten oder spiele Fußball«. Sich sonntags ins Auto zu setzen und an einer anderen Messe teilzunehmen – damit tut er sich schwer. »Ich habe doch die Kirche vor der Tür.« Nach wenigen Wochen Abstinenz vom Gottesdienst hat er aber an sich selbst beobachtet, wie schnell die Verbundenheit zur Kirche brüchig wurde. »Das geht wahnsinnig schnell, erschreckend."
In allen Bistümern Deutschlands vollzieht sich seit Jahren eine ähnliche Entwicklung: Aufgrund von weniger werdenden ehelosen Priestern präsentiert jedes Bistum ein entsprechendes Sicherungskonzept. Die Zielrichtung ist jeweils dieselbe: Es werden »Seelsorgeeinheiten«, »pastorale Räume«, »Pfarreienverbünde«, »Pfarreiengemeinschaften« oder »Pfarreien neuen Typs« errichtet. Damit die neuen größeren Einheiten von den weniger werdenden Pfarrern bewältigt werden können, werden nach und nach die Beratungsgremien (Pfarrgemeinderäte), aber auch die Entscheidungsbefugnis über die Finanzen (die bei den Kirchenvorständen oder Stiftsräten liegt) von der Ortsebene auf die neue größere Ebene verlagert. Viel Ärger und Unverständnis lösen derlei Pläne aus, wenn wie in den Bistümern Hildesheim, Freiburg oder Essen auch noch Kirchengebäude zur Disposition stehen. In Duisburg-Hamborn sollten in der Großgemeinde St. Norbert vier Kirchen aufgegeben werden, darunter auch St. Peter und Paul in Duisburg-Marxloh in Sichtweite der neu errichteten Großmoschee. Nach vielstimmigem Protest – selbst die Muslime hatten warnend ihre Stimme erhoben – sollen nun zwei der vier Kirchen doch erhalten werden. Seit 2006 wurden im Bistum Essen nach eigenen Angaben 96 Kirchen aufgegeben, eine Zahl, die man vor Jahren noch für unmöglich gehalten hätte. Nur 46 Großgemeinden sollen übrig bleiben.
In Augsburg ist geplant, die rund 1000 – zum Teil nur einige hundert Katholikinnen und Katholiken umfassenden – Gemeinden und Kirchdörfer in rund 200 pastoralen Räumen aufgehen zu lassen. Auch hier ist das maßgebliche Strukturmerkmal die Zahl der einsatzfähigen Priester. Der Augsburger Bischof Konrad Zdarsa hatte die Reformpläne in seinem diesjährigen Fastenhirtenbrief angekündigt und damit heftigen Widerstand ausgelöst (Publik-Forum 5/2012). Der kommt auch daher, weil die Gemeinden nicht einbezogen wurden. »Wir hatten das Bistum gebeten, in den entsprechenden Arbeitsgruppen mitzuarbeiten«, sagt etwa Helmut Mangold, Vorsitzender des Diözesanrates Augsburg, der Vertretung der Pfarrgemeinderäte auf Bistumsebene. Vergeblich. Nun erbost viele das Verbot von sonntäglichen Wort-Gottes-Feiern ohne Priester. Dahinter steckt die Sorge des Augsburger Bischofs, dass durch diese Feiern die Bedeutung der Eucharistiefeier für den Aufbau der Kirche verdunkelt würde. Daher sollen Katholikinnen und Katholiken einen zentralen Gottesdienst innerhalb der Pfarreiengemeinschaft aufsuchen. Dieses »Opfer« sei angesichts der auch sonst üblichen selbstverständlichen Mobilität durchaus zumutbar, schreibt Bischof Zdarsa. »Ein Gottesdienst wird doch nicht konsumiert«, entgegnet Helmut Mangold. Außerdem gebe es auf dem Land viele Mobilitätsverlierer: alte Menschen, Jugendliche und Familien mit Kindern. Und: »Rund 2000 Menschen sind bei uns in den letzten Jahren ausgebildet worden, eine Wort-Gottes-Feier zu halten«, sagt der Diözesanratsvorsitzende. Viele von ihnen fühlten sich nun ins Abseits geschoben. Ebenso sorgt die geplante Einführung von »Pastoralräten« für Unruhe. In denen hat zukünftig – anders als in den früheren Pfarrgemeinderäten – der Pfarrer den Vorsitz. Örtliche Pfarrgemeinderäte wird es dann nicht mehr geben.

Kulturfragen
Auffällig ist: Egal, wo man in diesen Tagen mit Katholikinnen und Katholiken spricht, schon nach wenigen Minuten ist man bei Kultur- und Stilfragen. »Ständig haben wir den Eindruck: Wir können über alles diskutieren – aber nicht über das Ziel Zentralisierung und Zentralpfarrei«, sagt Robert Sauter vom Augsburger Initiativkreis Bistumsreform. Es gebe einen großen Ärger über die ständige Nichtbeteiligung. »Wir brauchen ergebnisoffene Gespräche. Und die Gemeinden müssen selber Vorschläge machen können, wie sie weiterarbeiten wollen«, sagt er.
»Das Leben in einem Dorf und damit das Leben in einer Kirchengemeinde funktioniert nur durch Identifikation und Bindung«, weiß auch Helmut Mangold vom Diözesanrat. Aber schon der damalige Kardinal Joseph Ratzinger hat beim Nachdenken über priesterlose Gottesdienste einen Grundsatz formuliert, der sich auch in der Begründung des Augsburger Modells wiederfindet: »Es gilt der Vorrang des Sakraments vor der Psychologie. Es gilt der Vorrang der Kirche vor der Gruppe.« Das heißt in der Sicht des Lehramtes: Nicht die Menschen stiften die Gemeinschaft, sondern Christus – die Blickrichtung muss stets die Gesamtkirche sein.
Christsein dürfe sich nicht in der Liturgie erschöpfen, warnt dagegen Stefan Orth, Redakteur der katholischen Zeitschrift Herder-Korrespindenz. »Christsein ist auch auf Vergemeinschaftung über die Gottesdienstgemeinde hinaus angewiesen und muss sich auch diesseits des Trips zum nächsten Kirchort bewähren«, meint er. Missionarisch Kirche sein stehe und falle auch mit einer »unaufdringlichen, aber überzeugenden Präsenz in der Fläche.«
Im Bistum Osnabrück versuchte man die Strukturreformen eher als einen kulturellen Prozess anzulegen, wie der ehemalige Diözesanreferent Ulrich Schrartz rückblickend berichtet. Er koordinierte die Strukturveränderungen seinerzeit im Dekanat Bremen. »Natürlich gab es auch hier harte Auseinandersetzungen und Diskussionen. Trotzdem sind wir stilvoll und wertschätzend miteinander umgegangen.« In Bremen habe sich der Stadtpastoralrat seinerzeit zur Mitgestaltung entschlossen. Der Bischof habe die Zusage gemacht, den Prozess, der durch den Stadtpastoralrat angestoßen werde, zu übernehmen. »Dadurch wussten die Leute, dass sich der Bischof grundsätzlich an ihre Beratungen und Entscheidungen bindet.« Die Vorarbeiten seien auf einem Stadtpastoraltag 2005 vorgestellt und beraten worden. Aus ehemals 16 selbständigen Pfarreien wurden auch in Bremen fünf pastorale Räume errichtet. »Ein solch gewaltiger Prozess gelingt nur durch wirkliche Teilhabe der Leute und wenn man Strukturprozess und geistlichen Prozess zusammen denkt«, sagt Schrartz. Man habe sich theologisch auseinandergesetzt, Kirchenbilder verglichen und diskutiert und die Menschen fortgebildet

Suche nach neuen Formen kirchlichen Lebens
Das versucht man auch im Erzbistum Freiburg. Ein Ausschuss des Diözesanrates soll die kommenden Entwicklungen begleiten. Laien sind bei den Beratungen der entsprechenden diözesanen Kommissionen dabei. Auch in Freiburg wird es größere Seelsorgeeinheiten geben, die von einem Pfarrer geleitet werden, berichtet Felix Neumann, stellvertretender Vorsitzender des Diözesanrates. In ihnen gibt es einen Pfarrgemeinderat für alle und Gemeindeteams vor Ort, bei denen aber noch unklar ist, wie sie sich zusammensetzen und welche Kompetenzen sie haben werden. Diese Teams sollen die Pastoral koordinieren. Ein dehnbarer Begriff, findet Neumann: »Die konservative Auslegung besagt, dass die Teams das Pfarrfest organisieren, die progressive Variante will sie wie beim Vorbild der französischen Diözese Poitiers wirklich an der Gemeindeleitung beteiligen.«
Insgesamt hätten die Menschen auch in Freiburg den Eindruck, es herrsche der Zentralismusgedanke vor. »Die Menschen sind nach wie vor motiviert, vor Ort etwas zu tun, aber nicht auf der Ebene der Seelsorgebereiche«, weiß Neumann. Daher schlage der Diözesanrat vor, dass die Gemeinden eigene, zu ihnen passende Modelle entwickeln und ausprobieren sollten. »Wir brauchen gerade jetzt den Mut zum Experiment. Aber der wird nicht gewünscht. In den größeren, zentralisierteren Strukturen wird es schwieriger werden für Gemeinden, die sich ein eigenständiges Profil zugelegt haben. Das betrifft etwa die ökumenische Gemeinde im Freiburger Stadtteil Rieselfeld, die mit zwei viel klassischer strukturierten Gemeinden eine Seelsorgeeinheit bildet.«
Mut zum Experiment – das wünschen sich zum Beispiel auch die Katholikinnen und Katholiken der Stadt Köln. Der Katholikenausschuss, die Vertretung der katholischen Laien in der Stadt, veröffentlichte im Juli letzten Jahres seinen »Kölner Anstoß«: Es gehe »längst nicht mehr nur um einen Dialogprozess, wir haben auch dringenden Handlungsbedarf.« Konkret setzt sich der Ausschuss für eine Wortgottesfeier am Sonntag ein und dafür, dass Laien Beerdigungen gestalten dürfen. Solche Vorschläge wurden sogar vom Kölner Regionalbischof Manfred Melzer und dem damaligen Kölner Stadtdechanten unterstützt.
Bei einer Tagung aller leitenden Pfarrer im Erzbistum Köln warnte selbst der Leiter der Hauptabteilung Seelsorgebereiche, Hermann-Josef Rademacher, vor der Versuchung, immer größere pastorale Räume zu schaffen. Man wolle und solle sich »behutsamer auf die Suche nach neuen Formen kirchlichen Lebens im Erzbistum Köln machen«, erklärte er. Von großer Bedeutung sei, ob es gelinge, auch an den Kirchorten ein selbstbewusstes Ehrenamt zu etablieren, »das mehr Verantwortung und auch eine Mitbeteiligung an der Leitung zugestanden bekommt.«

Was, glauben wir, ist unser Auftrag?
Die katholischen Bischöfe müssten dringend auf die Frage antworten, wo ihr jeweiliges Bistum in zwanzig Jahren stehen soll, sagt Bernhard Spielberg, Akademischer Rat am Lehrstuhl für Pastoraltheologie der Universität Würzburg. Die meisten könnten nur sagen, wo sie herkämen. Das sei zu wenig, findet Spielberg. Die Kirche vor Ort sei unverzichtbar, zeige sich in der kirchlichen Präsenz in der Fläche doch die Sorge der Kirche für alle Menschen. Allerdings müsse die Kirche vor Ort die Frage beantworten, wofür sie denn überhaupt stehe. Die Gemeinden müssten für sich eine pastorale Aufgabenorientierung finden: »Wofür sind wir als Kirche eigentlich gut? Was ist unser Auftrag? Welchen sinnvollen Beitrag für das Leben der Menschen am Ort können wir leisten?« Dabei gelte es, die wachsende Entfremdung der katholischen Kirche von kulturellen, ästhetischen und sozialen Erfahrungen und Ausdrucksformen der Menschen von heute zu beenden, sagt Bernhard Spielberg. »Es geht nicht um die Ausbreitung einer bestimmten Sozialform der Kirche und die Einpassung der Menschen in diese Form. Die Menschen müssen vielmehr die Chance erhalten, das Evangelium in ihrer Lebenswelt und aus ihrer Perspektive in den Blick zu nehmen.« Die Gemeinden müssten sich einem schmerzhaften, aber unausweichlichen Transformationsprozess stellen, um zu neuen pastoralen Orten zu reifen. Dabei dürfe nicht die dauerhafte Vergemeinschaftung das (heimliche) Ideal für das kirchliche Leben sein, sondern die Wertschätzung individueller Erfahrung. »Gemeindebildung wird sekundär«, sagt Spielberg. Das bedeute den Abschied vom Gemeindeleitbild der Pfarrfamilie. »Die Bistumsleitungen müssen den Pfarreien vor Ort echte Anreize bieten, neue Wege zu gehen, und viel Freiheit zum Experiment einräumen.«

(erschienen in: Publik-Forum 8/2012)

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