Montag, 24. Januar 2011

Ein Jahr danach

Vor einem Jahr brachen die Dämme. Drei ehemalige Schüler des Canisius-Kollegs in Berlin vertrauten sich dem Rektor der Schule Klaus Mertes an. Was dann ins Rollen kam, ist bekannt.

Joachim Frank erinnert die Verantwortlichen in der Kirche in diesen Tagen daran, dass wer sexuellen Missbrauch möglichst umfassend verhindern wolle, an die Tiefenursachen heran müsse. Hierzu laute die scheinbar paradoxe Auskunft der Humanwissenschaften: Sexueller Missbrauch habe weniger mit Sexualität zu tun als mit Macht. Also müsse die Kirche ihr Verständnis von Sexualität ändern, speziell ihre Haltung zur Homosexualität. Denn Opfer bei sexuellem Missbrauch durch Priester seien in vier von fünf Fällen Jungen zwischen 14 und 17 Jahren. Gemäß Wunibald Müller seien sie „in ihrer sexuellen und da auch homosexuellen Entwicklung stehen geblieben“. Ihren Anteil am Klerus beziffert er auf bis zu vier Prozent, eine erschreckende Quote. Für diese Personengruppe wiederum sei der Zölibat oft eine Möglichkeit, „die mitunter schmerzvolle Auseinandersetzung mit der eigenen Identität zu vermeiden“. Daraus folge: Der Anteil der „unreifen“ homosexuellen Männer sei unter den homosexuellen Priestern überdurchschnittlich hoch, und diese Gruppe von Priestern hinsichtlich des Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen besonders gefährdet.

Folgt man dieser Argumentation, führt die Haltung des Vatikans, die Männer nicht zur Priesterweihe zuzulassen, "die Homosexualität praktizieren, tiefsitzende homosexuelle Tendenzen haben oder eine so genannte homosexuelle Kultur unterstützen", Menschen, die sich zum Priester berufen fühlen, in ein Dilemma. Der Druck, als Homosexueller kein Priester werden zu können, führt dazu, dass die offene Auseinandersetzung mit der eigenen (sexuellen) Identität unterbleibt, ja unterbleiben muss. Das machtvolle System fördert zwangsläufig Unreife, also das, was es ihrer eigenen Zulassungsdefinition nach nicht gibt.

Denn über Sexualität wird entweder geschwiegen. Oder es wird mit Hilfe und in Formen von Sprachspielen gesprochen, erklärt Klaus Mertes in einem Interview an diesem Wochenende: "Sie können es an dem katholischen Katechismus sehen. Da steht Homosexualität direkt neben Prostitution, neben Ehebruch und vorehelichem Geschlechtsverkehr. Und das sind vier vollkommen verschiedene Dinge, die in dieser dunklen Nacht eben alle gleich aussehen. In der Nacht sind alle Katzen eben grau." Fraglich, ob sich dies im pünktlich zum Weltjugendtag in diesem Jahr vorgestellten Jugendkatechismus, einer Variante des offizellen Erwachsenenkatechismus, ändert, der im Pilgerrucksack aller Teilnehmerinnen und Teilnehmer enthalten sein wird. Ein schmissiger Name für das Büchlein sowie eine angestrebte jugendgemäße Sprache ist wohl keine Garantie für einen verantwortungsvollen Inhalt. Es sei die Frage, so Mertes jedenfalls weiter, ob sich hier die Kirche nicht auch in einer Falle befinde, durch die sie selbst sprachlos werde beim Thema Sexualität. Mertes bringt das Grundproblem auf den Punkt: Den Zusammenhang von Macht und (sexuellem) Missbrauch: "Das nächste Problem ist natürlich immer das öffentliche Sprechen. Also, ich weiß, dass ganz viele unter dieser Frage leiden. Aber das Problem ist, dass sie natürlich in dem Moment, wo sie diese Fragen öffentlich stellen, dann natürlich auch sich in eine öffentliche Auseinandersetzung begeben, wo sie dann eventuell auch gelegentlich mit disziplinarischen Konsequenzen rechnen müssen. Und das macht das so schwer." Wer offen über seine homosexuelle Identität und seine Berufng zum Priester oder zu einem anderen Dienst in der Kirche sprechen möchte, kann dies auch im Jahr 2011 nicht tun. Daran ändert auch das öffentliche Bekenntnis des Theologen und Religionslehrers David Berger nichts, dessen Entzug der missio canonica in bestimmnten katholischen Kreisen vehement gefordert wird. Warum das bislang nicht geschehen ist - es sei ihm und niemandem sonst gewünscht - darüber mag man spekulieren. Nie aber wird sich ein katholischer Chefarzt oder Schulleiter, eine Lehrerin oder Pastoralreferentin, würde er oder sich ähnlich öffentlich erklären, auf ihn berufen können.
 
Mertes´ wichtige Erkenntnis nach einem Jahr ist die, dass man Opfern nur gerecht werden kann, indem man ihr Leid offen benennt. Es "führt kein Weg daran vorbei, die Dinge denn eben doch offen zu sagen mit den Risiken, dass man dadurch in Konflikte kommt. Ich glaube aber, dass es gar keine Möglichkeit gibt, der Opferperspektive auf uns wirklich gerecht zu werden, wenn wir über diese Dinge weiter schweigen. Das ist ja der Punkt." Man wird annehmen dürfen, dass Mertes das nicht nur im Hinblick auf Missbrauchsopfer meint, sondern im Hinblick auf alle Menschen, die ihre - sexuelle, private - Identität im Rahmen der Kirche verschweigen. "Wo aber die Wahrheit verschwiegen wird, degeneriert Heiligkeit zu Schein-Heiligkeit. Scheinheiligkeit und Heuchelei gehören aber zu den Verhaltensweisen, die unser Herr Jesus Christus am schärfsten kritisiert hat", sagte Ende letzten Jahres der Missbrauchsbeauftragte der Deutschen Bischofskonferenz, Stephan Ackermann. So bleibt die Hoffnung, dass zunehmend mehr Menschen in der Kirche die Wahrheit sagen, den Menschen zuliebe, ein Jahr danach.

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