Der Karfreitag stellt mir die Frage: Gehts mich noch was an?
Von Peter Otten
Vor
ein paar Tagen habe ich in einem Kölner Vorort eine Frau beerdigt.
Innerhalb von zehn Tagen war sie erkrankt und gestorben. Ich bin auf
einen fassungslosen hilflosen Witwer getroffen, sichtlich kaputt
gearbeitet und der nach 55 Jahren gemeinsamen Lebens mit seiner Frau zum
ersten Mal von ihr getrennt war. Und der deswegen so geschockt war,
weil er gemerkt hat: die Trennung ist für immer. Ich habe eine Tochter
kennen gelernt, die für wenig Lohn in drei Krankenhäusern saubermacht.
Und zwischendurch aus Mitleid wegen der überarbeiteten Pflegerinnen und
Pfleger das benutzte Essensgeschirr der Patienten einsammelt. Zwei
Menschen am Ende ihrer Kraft und am Ende ihres Lateins. Im Januar hatten
sie noch den Sohn / den Bruder beerdigt, der beim Angeln einfach
umgefallen war. Und nun das.
Im Mahlstrom der Bilder
Im
Büro der Gemeinde, in der die Frau gestorben war wurde der Bestatterin
gesagt, am Tag der geplanten Beerdigung, einem Montag, sei in der
Gemeinde Ruhetag. Man könne da leider nichts machen. Dienstag gern, aber
Montag halt nicht. Und so hatte sich die Bestatterin verzweifelt durch
die Stadt telefoniert und war freitags dann bei mir gelandet mit der
Frage, ob ich mir vorstellen könne zu helfen.
Und als ich zwei
Stunden später bei der Familie am Esszimmertisch gesessen bin und
Filterkaffee geschlürft und die rotgeränderten und von den Tränen völlig
aufgeweichten Augen gesehen habe, da gab es mir einen Stich, weil ich
auf einmal geahnt habe, was das für ein Gefühl ist, wenn du den Eindruck
haben musst: „Ich bin euch total egal. Ich interessiere euch einen Dreck.“
Ich
erzähle das nicht, um KollegInnen runterzumachen. Ich erzähle das, weil
heute Karfreitag ist. Und wenn du bei einer Familie sitzt, die alles
verloren hat – den Halt, das Vertrauen, die Liebe – dann ist auf einmal
Karfreitag. Und wenn du hineinsteigst in die Verächtlichkeit, die sie
erleben. Dann ist auf einmal Karfreitag. Denn der Karfreitag ist der Tag
der Gnadenlosigkeit. Der Verachtung. Der Überforderung. Der Tag des
Achselzuckens. Der Tag dieser furchtbaren Lieblosigkeit. Der
Gleichgültigkeit und der Empathielosigkeit. Der Nichtzuständigkeit. Der
Verantwortungslosigkeit und des Mit-dem-Finger-auf-einen-anderen –
Zeigens. Der Tag, an dem einem Menschen irgendwo in dieser Stadt
schlagartig klar wird: Ich bin egal. Ich bin einerlei. Mein Schmerz,
meine Not, meine Geschichte – egal. Ob es mich gibt oder nicht - egal.
Es ist Karfreitag: Der Tag, wo das Schicksal einer Familie in
irgendeinem Wohnblock in irgendeiner Straße in dieser Stadt sich einfügt
in den ruhelosen gefühllosen anonymen Mahlstrom der Bilder, die sich in
die Nachrichten ergießen, durch das Internet gespült werden. Karfreitag
ist der Tag, an dem du dich fragst, ob die Welt womöglich nur noch aus
digitalen Einsen und Nullen besteht, hinter denen die Menschen und ihr
Leben, ihr Fleisch und ihr Blut, ihr Herzschlag, ihr Atem, ihre
Sehnsucht, die Trauer in ihrem Blick, ihr Geruch nach Arbeit und
Schwere, ihre Sehnsucht – tonlos und schweigend im Datennirwana
verschwinden.
Karfreitag ist aber auch der Tag, an du selbst schockiert merkst: der andere erreicht mich ja wirklich nicht mehr. An dem dir schmerzvoll klar wird: Wenn ich ehrlich bin hat der andere ja auch tatsächlich keine
Bedeutung für mich. Karfreitag ist ja auch der Tag deiner eigenen
Gnadenlosigkeit. Der Lieblosigkeit, die du ja selbst auch nicht
aufhältst.
Gott sei Dank, ich habe Ruhetag
Und
wenn du den Fernseher anmachst oder das Internet dann siehst du die
verpixelten Kinder tot auf der Straße liegen und die erschossenen Mütter
und Väter unter den schwarzen Planen und du klickst weiter und weiter
und bist vielleicht sogar dankbar, dass deine Psyche eine innere
Hornhaut ausgebildet hat, eine Imprägnierung gegen die Übermacht der
Gefühle und gegen die Ohnmacht und das bohrende Gewissen und deinen
wummernden angstvollen Herzschlag. Und du bist vielleicht sogar im
Stillen dankbar, lieber Gott, vielen Dank, ich habe Ruhetag. Denn der
Karfreitag ist ja auch der Tag deiner eigenen Begrenzung, Schwäche,
deines eigenen Siechens, deines inneren Sterbens, deines Erschreckens
vor deiner eigenen Müdigkeit. An dem du erkennt, du bist ja gar nicht
der Simon von Cyrene oder Maria oder der Lieblingsjünger, die helfen und
anpacken und unter dem Kreuz ausharren, sondern auch nur ein Petrus
oder ein Soldat, die die Augen und die Herzen dichtmachen.
Und
deswegen gibt’s das Tuch am Kreuz. Es ist ein bisschen wie bei Christo,
der den Arc de Triomphe verhüllt und wo du erst durch die Irritation der
Verhüllung die unverwechselbare einmalige Schönheit der Architektur
wieder entdeckst. Erst seine Verhüllung klammert das Gebäude ja aus dem
Bilderstrom des Stadtgewimmels heraus. Paradoxerweise muss etwas also
erst verhüllt werden, um seine Einmaligkeit, seine Schönheit (wieder) zu
bemerken.
Deswegen haben wir das Kreuz vor ein paar Tagen
verhüllt und enthüllen es gleich wieder. Damit das Leid, die Zerstörung,
der Schmerz, der Tod nicht im Mahlstrom der Tage, Wochen und Jahre zum
Einerlei wird. Damit die Ignoranz, die Gefühlskälte und die
Lieblosigkeit, die ja auch meine eigene Ignoranz, Gefühlskälte und
Lieblosigkeit sind, nicht zur Normalität werden. Jeder Schmerz, jedes
Leid, jeder Tod, jede Einsamkeit hat doch einen Namen. Hinter jeder
Hülle ein Gesicht. Unter jeder Plane ein Körper. Hinter jeder
Verpixelung ein Mensch.
Das Leid muss ein Gesicht bekommen
„Ecce
homo, Mensch betrachte, schaue diesen Menschen an! Der verraten und
verspottet niemand hat was Leids getan.“ Und so trete ich gleich vor das
enthüllte Kreuz und schaue an, was ich da sehe. Vielleicht sehe ich die
Lämmer, Ziegen, Rinder und Schweine, die auch zu diesem Fest wieder in
den Fabriken geschlachtet werden. Vielleicht sehe ich nichts weiter als
einen geschnitzten Korpus. Vielleicht sehe ich die Fernsehbilder einer
Frau irgendwo in Butcha, die die Leichen ihres erschossenen Sohns und
der misshandelten Schwiegertochter gerade eigenhändig in einem Erdhügel
vergraben hat. Vielleicht sehe ich einen alten Mann in einem Rollstuhl,
der seiner toten Frau hinterher weint und stammelt: „Warum ist sie weg?
Sie hat doch niemandem etwas getan.“ Vielleicht sehe ich seine Tochter,
wie sie auf Zehenspitzen durch die Intensivstation eines Krankenhauses
schleicht und Tassen und Teller und Besteck einsammelt, weil ihr die
Krankenschwestern so leidtun, wegen ihrer vielen Arbeit.
Vielleicht
sehe ich mich selbst im Moment des Erschreckens, wenn ich mir für einen
Moment vorstelle, es gebe niemanden, der sich für mich interessierte.
Vielleicht sehe ich mich selbst in dem Höllenmoment, in dem ich merke,
alle anderen haben Ruhetag.
Vielleicht sehe ich aber auch einen
Menschen, der sich anrühren lässt von dem, was er da sieht. Denn das
Leid muss doch ein Gesicht bekommen. Gesicht und Stimme. Der Karfreitag stellt mir die Frage: Gehts mich noch was an? Sonst kann doch
nicht Ostern werden.
Lieber Peter Otten, Sie haben eine große Gabe gute Worte zu finden. Ich lese immer was Sie schreiben und bin wie heute wieder, oft sehr angerührt. Da wo ich nur Wortfetzen in meinem Kopf finde, formulieren Sie Gedanken und Gefühle aus. Menschen wie Sie sind ein Grund für diese Kirche weiter einzustehen.
AntwortenLöschenDanke, das wird mir meine Karfreitagsgottesdienste leichter machen.
Angela Gotzhein
Liebe Angela Gotzheim, lieben Dank für den wunderbaren Kommentar! Es ist für mich großartig, wenn ich merke, dass meine Gedanken tatsächkich eine Resonanz finden. Ich wünsche Ihnen ein frohes Osterfest voll Glaube, Hoffnung und Liebe!
LöschenVielen Dank für diesen Text, der mir im besten Sinne des Wortes zu denken gibt.
AntwortenLöschenStarker Text - auch für Nicht-Christen/-Gläubige verstehbar und relevant! Vielen Dank, Herr Otten, und frohe Ostern!
AntwortenLöschenBin über den Pfarrbrief "Unterirdisch", der mir heute in Agnes über den Weg lief, auf Ihren Bericht gestoßen "Gott wird das Verjagte wieder suchen". Er hat mich sehr angefasst und was Sie über den Karfreitag schreiben, ist das Beste, was ich jemals dazu gelesen habe. Hildegard Meier, eine (ehemalige) Pastoralreferentin, die inzwischen als Sprecherin seit über 30 Jahren versucht, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, Geschriebenes in Ausgesprochenes zu verwandeln. Sehr herzliche Grüße
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