Sonntag, 9. März 2025

Dem Gefangenen Freiheit

Foto: Peter Otten
Dem Gefangenen Freiheit. Wie kann  es sein, dass es in der Kirche immer noch Menschen gibt, die das Gegenteil tun? An Ihrer Hand konnte Ingo laufen. Gedanken
anlässlich der Trauerfeier für Ingo W. Erven am 8. März 2025 im Ruheforst Hümmel.

Von Peter Otten

Ich werde diesen Moment nicht vergessen. Mitten durch St. Gertrud ist ein Drahtseil gespannt. Darüber hängt ein Gaze-Stoff. Auf dem Stoff ist eine mechanische Schreibmaschine zu sehen. Klickernd und klackernd schlagen die Buchstaben der Schreibmaschine durch ein Farbband auf die Walze. Die Geräusche hallen in dem dunklen Raum nach. Nach und nach wächst auf dem Papier ein Text. Ist die Walze von rechts nach links gelaufen schiebt eine Hand sie wieder auf die Anfangsposition. Eine neue Zeile entsteht. Manchmal unterbricht eine kurze Stille das Klackern. Dann muss die Hand einen Buchstaben wieder lösen, der sich auf der Walze verklemmt hat. Ist die Seite vollgeschrieben beginnt der Film von vorn. Tschak-tschaka-di-tschaktschak-di-tschaka. Als ich vor über drei Jahren die Kirche betrete und diese Szene sehe habe ich wie in Trance mein Handy gezückt. Und als ich mein Handy nach rechts geschwenkt habe, weil ich festhalten wollte, wie sich der Film auch auf der rauen Betonwand der Kirche abbildet läuft ein Mann durchs Bild, ein großer Mann, ein Riese fast, so kommt es mir vor. Es ist der Moment, in dem ich Ingo zum ersten Mal begegne. Und an einer Leine führt er Benny, seinen kleinen Hund.


Vor über drei Jahren war das. Studierende der Ausstellungsarchitektur der Hochschule Düsseldorf haben Ingos Geschichte recherchiert und in unserer Kirche visualisiert. Der Film ist vielleicht das Kernstück: Ein Dokument des Grauens, denn Ingo hat den jungen Menschen seine Geschichte erzählt. Davon, wie er als Kind von einem Priester immer wieder vergewaltigt worden ist. Und der Film ist ein schneidendes Dokument der Unerbittlichkeit, ein visuelles Gefängnis, wie ein krachender Kokon, der sich schon seit Jahrzehnten um Ingos Körper und um seine Seele legt, jeden Tag, jede Nacht, jede Sekunde, Entkommen unmöglich.

Später erscheint oft sein Name auf meinem Handydisplay: Ingo W. Erven. Die Verabredung ist: Wenn ich nicht rangehe, kann ich gerade nicht reden. Aber ich rufe zurück. Beim Telefonieren lege ich mich oft hin und mache die Augen zu. Irgendwann erzählt er mir, dass er seit Jahren nur im Sitzen schlafen kann, wegen dieser Angst, die ihm unerbittlich im Nacken sitzt. Ich folge ihm gedanklich in seinen alten Caravan. Oft steht er nachts auf und verlässt mit diesem Auto die Stadt. Dann fährt er und fährt, bis er irgendwo in der Totenstille der Eifel zumindest eine Ahnung davon bekommt, was es heißen könnte, frei zu sein.

Vor ein paar Wochen geht er nicht ans Telefon und ruft auch nicht zurück. Schließlich melden Sie sich, Frau K., die sie 24 Jahre ihr Leben mit ihm geteilt haben. Ingos innere Verwüstungen haben seinen Körper ausgelaugt. Im Krankenhaus kämpft er um sein Leben. Da liegt er, der Riese, inmitten von Kabeln, Röhren, Schläuchen und dem Gepiepse von allerlei Apparaten. Als klar wird, dass er nie mehr selbständig atmen kann, stirbt er.

Vor zwei Jahren hat Ingo erzählt, dass er fast nichts mehr sehen kann außer Trübnis und Schatten. Ein paar Menschen haben daraufhin zusammengelegt, damit er die Linsen bekommen konnte, die die Ärzte ihm empfohlen hatten. Am Telefon gluckst er nach der Operation wie ein Kind in einem Bonbongeschäft und beschreibt mir die Intensität der Farben. Ihm war wohl nicht mehr klar, wie schön die Welt ist. Ich halte den Hörer in der Hand, liege auf dem Bett und habe für einen Moment die Hoffnung, dass er glücklich ist.

Als wir beide über diese Feier heute nachgedacht haben ist mir diese Stelle aus dem Lukasevangelium eingefallen. Sie ist eine Art Regierungserklärung Jesu, die noch nicht mal von ihm selbst stammt, sondern er zitiert einen alten Propheten, der das gesprochen hat, als Israel in einer tiefen Krise war: Versklavt, heimatlos, fremd, ohne Orientierung. Ein Hoffnungstext mit dem Spitzensatz: „Er hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, / damit ich den Armen eine frohe Botschaft bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde / und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.“ Den Gefangenen die Entlassung. Wie oft habe ich an diesen Satz denken müssen, wenn ich mit Ingo gesprochen habe! Steht die Kirche nicht auch in der Tradition dieser Regierungserklärung Jesu? Wie kann es dann sein, dass es in der Kirche Menschen gibt, die das Gegenteil tun? Menschen Fesseln anlegen! Das Augenlicht und damit die Freude an der Welt nehmen! Die Zerschlagenen nicht in Freiheit setzen sondern immer noch einkerkern! Kein Gnadenjahr ausrufen, sondern sich auch im Wissen des Leids von Menschen wie Ingo in Fragen der Entschädigung immer noch wie buchhalterische Kleinkrämer verhalten!

Den Gefangenen Freiheit. Nichts hat Ingo mehr gesucht in seiner Unrast als Freiheit und Weite. Heute bei seiner Trauerfeier sind Sie da. Gott sei Dank. Menschen, die ihm dabei geholfen haben, Augenblicke von Freiheit und innerem Frieden zu finden. Zuallererst Sie, Frau K. Was Sie bis zum Schluss für Ingo getan haben, ist mit Worten nicht zu beschreiben. Sie haben dazu beigetragen, dass Ingo etwas schaffen konnte, was für Menschen wie ihn eine unmenschliche Kraftanstrengung bedeutet: Die Hoffnung nicht zu verlieren. Den Glauben an die Liebe, daran, dass es Menschen gibt, die es gut mit ihm meinen zu behalten. Sie, Frau K., sind eigentlich diejenige, die die Jesusworte wieder und wieder nicht wohlfeil von der Kanzel gepredigt, sondern Tag für Tag, Jahr für Jahr getan hat: Sie haben dem Armen die frohe Botschaft gesagt, dem Gefangenen täglich die Fesseln abgenommen, dem Blinden die Schönheit der Welt gezeigt, den Zerschlagenen aufgerichtet und ihm die Freiheit gezeigt. „Die Drecksäcke schaffen es nicht, dass ich den Glauben an das Gute verliere“ hat Ingo mir oft gesagt. Ich glaube, er hat es sagen können, weil er Sie alle hatte. Und vor allem Sie, Frau K. Heute verbeugen wir uns auch vor Ihnen. „Wir werden frei sein, wenn wir uns lieben“ singt die Kölner Band Brings. Es könnte so einfach sein. Sie haben es gelebt. An ihrer Hand konnte Ingo laufen. In allem Wahnsinn trotzdem dem Himmel entgegen.

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