Vielleicht ist das die Pointe: Der Pharisäer könnte vom Zöllner lernen, was Demut ist. Mut zum Dienen, zur Dienstbarkeit. Zum Anerkennen der eigenen Zerbrechlichkeit. Der Zöllner vom Pharisäer, was Struktur ist und wie gut sie tut. Zusammen wären sie – ein normaler Mensch. Gedanken zum Severinusfest am 26. Oktober in St. Severin, Köln
Von Peter Otten
Ich habe ein ambivalentes Verhältnis zu Reliquien. Mein
Dogmatikprofessor an der Uni – sicher kein Liberaler – hat damals gesagt: „Knochen gehören unter die Erde. Auf den Friedhof.“ Ich fand damals, da hatte er recht.
Die Goldene Kammer in St. Ursula – mit all den Knochen in Gold und Prunk – ist mir fremd. Und dieser Hype um den armen Carlo Acutis neulich – der heilige Teenager mit der Website über Eucharistiewunder – ich gebe zu, ich fand das eher befremdlich.
Und trotzdem. Trotzdem rühren mich Geschichten von Wallfahrtsorten. In Biesfeld, dem kleinen Dorf im Bergischen Land, wo ich herkomme, haben Menschen im 17. Jahrhundert angeblich eine Pietà in einem Baum gefunden. Und die Bauern haben dieser Pietà eine Kapelle gebaut. Später sogar eine Kirche. Das berührt mich. Weil es so menschlich ist. So vollkommen unvernünftig auch. Und diese Geschichten wiederholen sich ja. Auch heute tauchen bei uns in der Agneskirche plötzlich Gipsmadonnen auf. Rosenkränze. Kruzifixe. Einfach abgestellt. Anonym. Vielleicht, weil die Oma gestorben ist, und keiner weiß, wohin mit dem alten Glauben. Und irgendwer denkt sich: „Die Katholiken – die sollten schon wissen, was man damit macht.“
Ich bin übrigens kurz davor, mir zum ersten Mal in meinem Leben ein Fußballtrikot mit aufgeflocktem Namen zu kaufen. Said El Mala soll draufstehen. Letzte Saison noch bei uns bei Viktoria Köln auf der linken Seite rauf- und runtergelaufen, jung, schnell, gefährlich. Wenn ich sein Trikot tragen würde, wäre das ja auch eine Art Reliquie. Ein Stück vom heiligen Mann, das ich mir überziehen kann. Und mit ihm – ein Stück seiner Jugend, seiner Unbekümmertheit und seinem unfassbaren Selbstvertrauen. Wenn er irgendwann mal bei Real Madrid spielt, dann kann ich sagen: Ich hab ihn schon in Höhenberg gesehen. Damals, als ihn kaum einer kannte. Und als er schon unglaublich gut war.
Heute geht’s aber um den heiligen Severin. Seine Gebeine liegen seit Jahrhunderten in einem goldenen Schrein. Gleich tragt ihr diesen Schrein durch euer Viertel. Und ich denke: „Wenn heute jemand stirbt, kommt kein Schrein, sondern ein Container. Dann muss die Wohnung geräumt werden. Möglichst flott. Dafür gibt’s Dienstleister. Und eine Prozession von Interesssenten zieht zum Hausflohmarkt – um zu gucken, was man noch brauchen könnte. AWB statt Anbetung.
Eine Reliquie meiner Mutter hängt in unserer Küche. Ein Einkaufszettel. Ihre schöne, sorgfältige Schrift. „Endiviensalat. Sauerkirschen. Gouda am Stück.“ Und vier Weckmänner. Das heißt, wahrscheinlich hat sie ihn mal im November geschrieben. Ich hab mir vorgenommen, das alles mal einzukaufen und daraus ein Essen zu machen. Ein Erinnerungsmahl. Hab’s bis heute nicht geschafft. Reliquien halten die Frage wach: Was bleibt von mir? Meiner Mutter? Der Oma? Von Said El Mala? Von Severin? Und dieser Gedanke ist schön und bedeutsam in dieser zunehmend anstrengenden hystrerischen Welt.
Was mir an Severin gefällt: Man weiß fast nichts über ihn. Keine Wundertaten. Keine großen Sprüche. Keine Sprints und Dribblings. Keine Schlagzeilen im Kicker. Nicht mal ein Einkaufszettel. Und ich denke mir: Vielleicht war er einfach normal. Ein normaler Bischof. Einer, der glaubte, liebte, hoffte. Mit den Menschen, nicht über ihnen.
Und in diese Gedanken hinein ist dieses Evangelium erzählt: Zwei Männer gehen in den Tempel. Ein Pharisäer und ein Zöllner. Die Pharisäer, sagen wir oft dummerweise, waren angeblich die Bösen. Denen das Gesetz doch wichtiger war als der Mensch. Dabei stand Jesus ihnen ziemlich nah. Denn die Pharisäer nahmen Gott ernst. Die Gebote. Die Regeln. Sie waren – wenn man so will – der Maschinenraum der Religion. Sie pflegten Strukturen als Identitätsmarker. Die, die den Laden am Laufen hielten.
Und ich denke mir: Vielleicht bräuchten wir heute ein paar mehr von dieser Sorte. In einer Welt, in der Regeln zunehmend Verhandlungssache sind. Bauernschlaue Steuerberater bewundert werden. Und jeder glaubt, er sei seine eigene Instanz. Selbst beim Parken in der Feuerwehreinfahrt.
Aber dann dieser Pharisäer im Tempel. Macht etwas, was Jesus aufregt. Er sagt: „Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die anderen.“ Oder, wie man in Köln sagen würde: „Er säähnt sich selvs.“ Er segnet sich selbst. Das ist kein Gebet. Das ist eher ein Bewerbungsgespräch mit Gott. Ein linkin-Profil mit einem Haufen Anlagen, Zeugnissen und Bescheinigungen. Ein spirituelles Selbstlob.
Ich stelle mir die Szene bei uns im Agnesviertel vor: Ein Cappuccino beim Barista, ein schneller Blick aufs Handy. Likes, Daumen nach oben. „Ich hab nur fünf Stunden geschlafen, aber gesund gefrühstückt, kein Weißmehl, kein Alkohol, ich faste quasi zweimal die Woche – gehe laufen und mache Sport, so diszipliniert bin ich. Ich gehe sogar wählen. Gut, dass ich nicht so bin wie die anderen.“ Und manchmal merke ich voller Schrecken: Das bin ja ich, der da sitzt.
Der moderne Pharisäer braucht keinen Gott. Er hat sich selbst. Das ist schade. Ich meine das weniger aus moralischen Gründen. Sondern aus Traurigkeit. Selbstgenügsamkeit, das ist so traurig. Und so langweilig. Vor allem in deiner Stadt, deren DNA „Drink doch eine met!“ ist und in der die Menschen am liebsten jeden Tag schunkeln würden.
Und dann der Zöllner. Die Verräter. Kollaborateur der Besatzungsmacht. Er weiß: „Ich kann nichts wiedergutmachen. Ich hab nichts vorzuweisen. Ich hab so viel auf dem Kerbholz.“ Und in diese illusionslose Verzweiflung ein einziger Gedanke: „Gott, sei mir gnädig.“
Und Jesus sagt: „Der ist gerechtfertigt.“ Und mein selbstoptiemierungsgestähltes Leistungsgehirn sagt entrüstet: Wie bitte?
Das ist der Skandal des Evangeliums: Man muss sich nicht dauernd selbst rechtfertigen. Nicht vor Gott. Nicht vor anderen. Nicht einmal vor sich selbst. Nicht mit einem klugen Anwalt, einem Steuerberater, seinem Posten im Karnevalsverein. Nicht meine Leistung zählt. Nicht meine Moral ist entscheidend. Nicht mal die Zahl meiner Ehrenämnter, nicht die Messbesuche. Auch nicht meine Bauernschläue. Ich bin schon längst angenommen. Da kann man gar nichts dagegen machen. Angenommen. Was bedeutet: Nicht nur akzeptiert. Wie Kinder beim Fußballspiel auch den Dicken bei der Mannschaftswahl schulterzuckend halt ins Tor stellen. Wenn´s denn nicht anders geht. Angenommen bedeutet was anderes: „Du lebst in der Liebe Gottes. So wie du bist.“
In einer Gesellschaft, in der Selbstdarstellung zur Tugend geworden ist, ist das genau genommen revolutionär. „Ich bin nachhaltig, tolerant, leistungsbereit – also bin ich okay.“ Und der andere? Ein ungebildeter Demokratieverächter,
der das falsche Bier trinkt und auch noch eine unmögliche Partei wählt. Das Gleichnis sagt: „Mach mal halblang. Tu nicht so, als hättest du alle Antworten. Auch nicht in der Kirche. Vor allem nicht da.“
Denn vielleicht ist das die Pointe: Der Pharisäer könnte vom Zöllner lernen, was Demut ist. Mut zum Dienen, zur Dienstbarkeit. Zum Anerkennen der eigenen Zerbrechlichkeit. Der Zöllner vom Pharisäer, was Struktur ist und wie gut sie tut. Zusammen wären sie – ein normaler Mensch.
Und vielleicht ist das der Grund, warum wir Severin durch die Straßen tragen. Nicht, weil er spektakulär war, sondern genau so normal eben. Einer, der glaubte, hoffte, liebte. Einer, der Regeln geachtet hat, weil er gespürt hat, wie sie ihn getragen haben, aber wusste: „Gott liebt. Vor jeder Schuld. Ohne jede Leistung. Da kann ich nichts dagegen machen.“ Das bleibt übrigens doch auch wichtig: Der Glaube ist kein Leistungssport. Du bist nicht näher bei Gott, wenn du weißt, was Transsubstantiation ist oder dem lieben Gott dauernd die Bude einrennst.
Das wäre doch eine Botschaft, die Köln, der Südstadt, der Welt, gut täte: Es geht nicht darum, sich selbst zu erhöhen. Sich aufzublasen. Sondern darum, bereits aufgerichtet zu sein. Selbst dann, wenn du zerknittert und zerbrochen am Fliegenfänger hängst. Selbst dann, wenn dein Selbstbild nicht mehr ist als ein Haufen rauchender Trümmer. Das gilt für meine Mutter, die namenlose Oma und für Said El Mala auch: Du bist und bleibst: Groß. Da kannst du gar nichts gegen machen. Amen.
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