Screenshot: Peter Otten |
Von Peter Otten
Weihnachten ist ja das Versprechen, dass Liebe reicht. Weihnachten heißt ja "das Fest der Liebe." Doch dieses Versprechen ist zugleich eine zynische Provokation. Wie kann denn die Liebe reichen? Angesichts von Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen. Angesichts von Gewalt und Krieg. Klimawandel, Umweltzerstörung. Einsamkeit und Hunger und Leid ohne Maß.
Joe Henry stellt uns eine trostlose Winterszene in Amerika vor die Ohren. Eine Straße im Schnee, der schicksalergeben langsam zu Wasser zerfällt. Und in diese sterbende schmutzige Winterszene hinein malt der amerikanische Singer-/ Songwriter eine Prozession der Hoffnung. Eine Prozession von Heiligen, die nur vordergründig gar keine Heiligen sind. Denn auf drei Refrains verteilt zählt er sie alle auf, alle, die durch den Schneeregen die Straße hinaufziehen.
Doch hier kommen sie alle
Die Streuner und die Nonnen
Die Dichter, die die Schlafwagen kehren
(beim Nachdenken: also die Menschen, die nicht das Leben führen können, was sie führen sollten)
Der Metzger mit seinen Söhnen
Und hier kommen sie alle
Der Tyrann und seine Crew
Seine treuesten Verräter
Und hier kommen sie alle
Schrankgroße Abtrünnige
Müde hungrige Soldaten
Vom letzten Kinderkreuzzug.
Zufriedene Zuversicht, dass ist das, was dieser seltsame Zug mit sich bringt. Als ich dieses Lied nach langer Zeit nun mal wieder hörte dachte ich: was für ein seltsamer Zug abgerissener Hirten. Unmögliches scheint möglich. Aber warum scheint das, was unmöglich ist möglich?
Hier kommt die Wiederherstellung
Wir hatten fast aufgegeben
Doch heute Abend glauben wir zufrieden
Dass Liebe reicht.
Eine Resitution, eine Wiederherstellung also. Aber: Was wird wiederhergestellt? Vielleicht die Würde des Streuners. Der Zweifel der Nonne. Das Dichterleben womöglich, das der Dichter nicht leben konnte. Das Ansehen des Metzgers und seiner Söhne. Das Innehalten des Tyrannen und seiner Crew. Das Lob des Verräters. Der Schlaf und die Kraft des Soldaten. Meine eigene Kraft. Meine Zuversicht. Mein Ansehen. Mein Schlaf und meine Kraft. Denn auch ich selbst darf mich einreihen in diesem Zug der Abgerissenen. Ihre Zufriedenheit ist auch meine eigene. Ihnen ist die Liebe begegnet. Und sie hat aus einer Ansammlung von Verlorenen eine stolze Prozession von aufrechten Menschen gemacht.
Dies ist ein Lied darüber, dass die Liebe reicht. Und daher drängt sich geradezu der Gedanke auf, Joe Henrys Stück im Kontext der Verheißung von Jesaja zu hören: Das Volk, das im Dunkeln ist hat ein helles Licht gesehen. Oder es im Kontext dieses anderen wunderbaren Liedes zu hören: Als das Kindlein durch den Wald getragen da haben die Dornen Rosen getragen. Weihnachten ist das Versprechen Gottes, dass die Liebe reicht. Es ist die Einladung, diesem versprechen zu vertrauen. Es ist die Einladung, sich in den Zug der Aufgerichteten, der Getrösteten einzureihen. Mit dem Fest ist der Klimawandel nicht besiegt. Noch kein Leid besiegt. Kein Hunger gestillt. Doch es ist das Versprechen, dass all das wenigstens beginnen kann und ja auch schon begonnen hat. Und in dem deswegen ein Kraft liegt, die über den Schneeregen hinaus ins neue Jahr reichen kann.
...weil wir verwandelt werden, durch sie, darum reicht die Liebe...
AntwortenLöschenwunderbarer Text! Vielen Dank!
Lichtvolle Wandezeit wünscht
Lisa Kötter
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