Dienstag, 13. Dezember 2016

Ein Obdach wäre gut


Screenshot: Peter Otten
Das Bild des Christkindes, das Obdach findet inmitten von Hirten und Tieren ist der Spiegel die für die eigene Sehnsucht nach einer Herberge

Von Peter Otten

Im Kirchdorf meiner Kindheit gab es nicht viele zentrale Treffpunkte. Na klar, es gab eine Kölschkneipe. Und dann gab es die Kirche, aber selbst die hatte keinen schönen Kirchplatz. Eine einsame Bank stand da auf einem kleinen Stück Rasen. Hinter der Kirche aber war unmittelbar eine Straßenkreuzung mit einer kleinen Bushaltestelle. Dort stiegen morgens die Schülerinnen und Schüler an der Grundschule aus und nachmittags wieder ein. Und an der kleinen Bushaltestelle stand ein Häuschen. Es war aus Beton gegossen, weiß verputzt mit einer Holzbank, rechts und links standen die Wände hervor, damit Regen und Wind diejenigen verschonten, die dort warteten. Und diese Bushaltestelle mit dem kleinen Häuschen entwickelte sich schnell zu einem Treffpunkt für Jugendliche. Sie knatterten mit ihren Mopeds vor, steckten sich Zigaretten an, tranken Bier, hörten Musik aus einem Cassettenrekorder, quatschten und lachten. Bei Wind und Wetter war das so, in Sonne und Regen. Als ich im Studium irgendwann mal wieder an der Kirche vorbei kam, war das Häuschen weg. Ein Tieflader, so erzählte einer, sei gekommen, habe das Häuschen an den Haken genommen und davongefahren. Er wisse keinen Grund dafür. Das Häuschen sei natürlich zuletzt nicht mehr hübsch gewesen, man habe es bemalt und besprüht, und sicher habe manchmal Unrat herumgelegen. Und ja, er können sich vorstellen, dass es manchmal laut geworden sei. Aber es sei sehr schade, denn er sei quasi in dem Häuschen aufgewachsen. Nun sei der Ort verwaist. An der Stelle, wo es so lange gestanden hatte, sproß das Unkraut zwischen den Fugen der Gehwegplatten. Ansonsten fuhren Autos – und dazwischen war es friedhofsstill.

An diese Geschichte musste ich denken, als ich das Lied "Shelter From The Storm" nun wieder hörte. Manchmal braucht es nur ein Bushaltehäuschen, das Wind und Wetter trotzt, damit Kinder groß werden, sich treffen können, Freundschaften schließen, sich von anderen abgrenzen oder schlicht unterschlüpfen können. Oder anders gesagt: Manchmal braucht es gerade ein Bushaltehäuschen, das das Signal aussendet: Komm rein, ich gebe dir Obdach. Ohne langes Fragen, ohne Erklärungen. Für Kinder und Jugendliche ist diese Erfahrung ungeheuer wichtig, und es gibt sie in vielen Varianten: Meine Neffen haben sich Baumhäuser im Wald gebaut, und mit Freundinnen und Freunden treffen sie sich in einem alten Bauwagen, den sie sich hergerichtet und mit einem Trecker am Rand einer Wiese, weit weg von ihren Eltern gezogen haben.

Dieser Gedanke durchzieht auch das Lied „Shelter From The Storm“. Wie wäre es, wenn da jemand wäre, der fraglos seine Tür aufmacht für einen, der es nötig hat? Das Motiv „Shelter From The Storm“ wird Bob Dylan im Buch Jesaja entdeckt haben, wo man es drei Mal finden kann. In Kapitel 32 heißt es beispielsweise: „Seht: Ein König wird kommen, der gerecht regiert, und Fürsten, die herrschen, wie es recht ist. Jeder von ihnen wird wie ein Zufluchtsort vor dem Sturm sein, wie ein schützendes Dach beim Gewitter, wie Wassergräben an einem dürren Ort, wie der Schatten eines mächtigen Felsens im trockenen Land.“ Und Dylan beschreibt den, der da aus den Wäldern kommt als jemand, der es tatsächlich nötig hat: Eine wüste Kreatur pellt sich da aus der Wildnis ("a creature void of form" – das erinnert an den Schöpfungsbericht in der Genesis, wo die Erde in der englischen Fassung als „void of form“ beschrieben wird – wüst und leer). Der, der da aus dem Wald kommt „war ausgebrannt vor Erschöpfung, begraben unterm Hagel / Vergiftet im Gebüsch und auf dem Weg hingefallen / Gejagt wie ein Krokodil, verwüstet im Getreide“. Der Sound des biblischen Psalmisten. So präsentiert er sich einer nicht näher beschriebenen „sie“. Manche meinen, es handle sich um Dylans Frau Sara, mit der er in den Siebzigern in Trennung lebte. Manche meinen, aufgrund der beschriebenen silbernen Armbänder und den Blumen im Haar wäre Joni Mitchell gemeint, mit der Dylan Anfang der 70er eine enge Freundschaft hatte. Das spielt auch keine Rolle: interessant und unbegreiflich ist das Bild der fraglos geöffneten Tür, ein Bild, das sich nach jeder Strophe wiederholt, als könne der, der diese Zeilen wieder und wieder singt es selbst nicht begreifen.

 
Wir hören aber auch: er hat es irgendwann vergeigt und er leidet daran: „Jetzt ist da eine Mauer zwischen uns, irgendwas ging verloren / Zu viel betrachtete ich als selbstverständlich, meine Signale wurden missverstanden / Einfach zu glauben, alles habe an einem ruhigen Morgen begonnen.“ Und dann geht die Reise des wieder unbehausten Pilgers weiter. Es gibt Anklänge an die Kreuzigungszene: das Motiv, wie die Soldaten um die Kleider Jesu würfeln. Doch die Erinnerung an die Erfahrung, dass da jemand war, die ihre Tür fraglos geöffnet hat, sie geht mit. „Eines Tages werde ich es mir zu eigen machen / Wenn ich die Uhr zurück drehen könnte bis zu dem Punkt, als Gott und sie geboren wurde“. Die Sehnsucht nach der geöffneten Tür, nach einem Ort, der mein Ort ist – sie verstummt nicht: „Versuch dir einen Ort vorzustellen, der immer sicher und warm ist“.

Aber die Realität ist oft eine andere. Sie ist prekär, zu oft. Es ist nicht immer sicher und warm, es ist zu oft zugig und kalt, Hagelkörner prasseln allzu oft. Zu oft Männer, die kämpfen, damit es ihnen warm wird, und zu oft der Tod, der durch stahlblaue Augen schaut.

 
Ich weiß nicht, ob es ein Trost ist, dass auch die Weihnachtsgeschichte prekär ist. Sie ist nicht nur süß und romantisch, sondern auch hart und voll Gewalt. Das göttliche Kind wird in eine prekäre Welt hinein geboren. Es hätte in der Nacht, die Heilige Nacht genannt wird auch schief gehen können wie bei ungezählten anderen Kindern. Auch Jesaja erzählt sein Bild von der Sehnsucht nach Schutz und Obdach mitten im Sturm ja mitten in der Erfahrung von Gewalt, Vertreibung und Krieg.


Aber kann nicht das Bild des Christkindes, das fraglos Obdach findet inmitten von Hirten und Tieren der Spiegel werden für meine eigene Sehnsucht nach einer Herberge?
  
Wenn das so wäre: Weihnachten wäre dann das Fest des fraglosen „trotzdem“. Trotz aller Erfahrung eigener Unbehaustheit, trotz allem Sprechen ins Leere ohne Echo gibt es die Hoffnung, manchmal auch die Erfahrung, wenigstens aber die Sehnsucht nach einem Obdach für mich. Ohne Fragen, ohne Erklärungen. Ankommen mit der Gewissheit: bei dir darf ich bleiben.

Mit Bob Dylan durch den Advent, Teil drei. St. Gertrud, 13.12.2016. 

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