Sonntag, 6. Oktober 2013

Das Rote Meer von Lampedusa


Andreas Dengs / pixelio.de
Ist es nicht merkwürdig, dass wir den Freiheitsmythos, auf dem unsere eigene persönliche Identität, aber auch die unserer Religion beruht, anderen Menschen ganz selbstverständlich vorenthalten?

Von Peter Otten

„Oder aber"
Entweder man hat mir
das Leben aufgebrummt
bleut mir seine Regeln ein
und knöpft mich vor
wenn ich sie nicht begreife
niemand baut mir
Eselsbrücken

Oder aber der Sterne
Wolken Haare Sand
und Tränen zählen kann
zählt auch mein Haar
und meine Tränen
und alle Tage meiner Flucht
und lässt mich innewerden
dass er den Grund des Meeres
zum Wege machen und mich
hindurchgehen lassen kann“

Eva Zeller



Vor zwei Tagen ist in Lampedusa ein Boot gesunken, zwanzig Meter lang. 450 Menschen hat es über das Mittelmeer getragen. Das sind vier pro Quadratmeter. Vor der Küste angekommen haben die Passagiere auf sich aufmerksam machen wollen und eine Decke wie ein Leuchtfeuer angezündet. Dabei hat sich ausgelaufener Treibstoff entzündet. Das Feuer hat auf das Boot übergegriffen. Daraufhin flüchteten sich die verängstigten Menschen auf eine Seite des Bootes, das dann Schlagseite bekam, kenterte und sank. Es sollen Fischerboote vorbei gefahren sein ohne zu helfen, auch Hafenbehörden sollen untätig geblieben sein. Beschuldigungen und Dementis auf allen Seiten. Ein Gesetz aus dem Jahr 2002 verbietet es in Italien Menschen bei der illegalen Einreise zu helfen. Von 450 Passagieren konnten 155 gerettet werden. 111 Leichen wurden bislang geborgen, schreiben heute die Zeitungen. Fernsehbilder zeigen das Wrack. Die schäumenden Tänze der Wellen lassen es verblassen und verschlieren den Blick hinunter wie durch eine schlecht geputzte Fensterscheibe, 50 Meter in die Tiefe, verstellen den Totenreigen von 300 Afrikanern.

Die Menschen auf dem Boot vor Lampedusa wollten doch nur das, was uns Europäern total selbstverständlich ist: Sie wollen einfach nur ihr Glück finden. Es sind aber doch Armutsflüchtlinge! Sagen dann die einen. Und müssen daran erinnert werden, dass die Vorfahren des ehemaligen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy und hunderttausende andere Familien selbst Armutsflüchtlinge waren, als sie im 19. Jahrhundert vor der Kartoffelpest flohen und in die Vereinigten Staaten einreisten. Diese Krankheit raffte in Irland seinerzeit eine Million Menschen dahin. Oder vielleicht sollten sie sich mal ins Kino setzen und sich den Film „Die andereHeimat“ anschauen. Edgar Reitz erzählt da in fast vier Stunden Geschichten über die Armut im Hunsrück im vorletzten Jahrhundert und wie die Menschen versuchen, sie dort durch Flucht hinter sich zu lassen. „Chronik einer Sehnsucht“ heißt der Film im Untertitel. Gemeint ist damit zum Beispiel Jakob Schneider, der sich mit Hilfe von Abenteuerbüchern nach Brasilien sehnt, um dort ein neues Leben zu beginnen. „Ein süßliches Heimatfilm-Happy-End ist das nicht“, heißt es in der „Welt“ über den Film. „Dazu sind im Verlauf der Erzählung zu viele Kinder gestorben. Die Bilder des hageren Landarztes in seiner Hilflosigkeit gegen die Diphtherie-Epidemie haften im Gedächtnis ebenso wie die stumm verzweifelter Abschiede, wenn sich wieder einmal Familien in die langen Auswanderertrecks einreihen. Hunderttausende wurden so in wenigen Jahrzehnten aus Südwestdeutschland hinausgespült.“ Mein eigener Großvater war so eine Art Armutsflüchtling, als er vor dem letzten Weltkrieg aus der Armut Westfalens ins Rheinland kam, um dort einen verlassenen Bauernhof zu übernehmen (was für ihn als Schreiner wie er meinte unter seiner Würde war) um dann endlich eine Familie gründen zu können. Ohne seine Flucht gäbe es meine Familie nicht. Ist es da nicht merkwürdig, dass wir das, was für uns selbstverständlich ist, ja sogar Teil des Gründungsmythos von Familien oder Nationen, anderen mit einer unglaublichen Akribie verwehren?

Jedes Jahr zum Osterfest erzählen sich die Christen einen wichtigen Grundmythos ihrer eigenen Religion. Sie berichten wieder und wieder, wie Gott selbst sein Volk, das müde und dezimiert ist von der jahrhundertelangen Sklaverei in Ägypten in die Freiheit führt. Die Geschichte ist kompliziert, mitunter brutal und spannend und hat ein langes Präludium: Da überfallen Heuschrecken das Land, färben sich die Flüsse rot, regnen Frösche vom Himmel, wird in aller Eile Brot gebacken, werden die ältesten Söhne der Ägypter erschlagen. Gott zieht also quasi alle Register um zu zeigen, dass Ungerechtigkeit und Ausbeutung nicht sein darf. Und die Freiheitsgeschichte Israels erklimmt einen dramaturgischen Höhepunkt mit der Schilderung des Durchzugs durchs Rote Meer: „Die Israeliten zogen auf trockenem Boden ins Meer hinein, während rechts und links von ihnen das Wasser wie eine Mauer stand“, lesen wir in der Bibel. Und als sie das andere Ufer erreichen, und als sie sehen, dass die Armee des Pharao, die ihnen gefolgt war mit Ross und Reitern und Streitwagen in den zurückdrängenden Fluten versinken: Ja, da singen sie aus Leibeskräften, sie singen und tanzen alle Anspannung, alle Todesangst hinweg.

Im Mittelmeer vor Lampedusa, aber auch in den Gewässern vor Malta und Griechenland türmt sich das Meer nicht zur Seite. Und Frontex, die hochgerüstete Grenzsicherungstruppe der Europäischen Union sorgt im Normalfall, der zugleich ein europäischer Idealfall ist, dafür, dass die klapprigen Boote nicht europäische Hoheitsgewässer erreichen. Und der Durchzug der Flüchtlinge, von dem wir partout nicht wollen, dass er eine Freiheitsgeschichte genannt wird, endet selten mit erleichtertem Tanz, zu oft hingegen mit Totenklagen, falls die ertrinkenden Menschen überhaupt registriert werden oder irgendjemanden interessieren.

Das Gedicht der 90jährigen Schriftstellerin Eva Zeller, das ich ebenfalls in diesen Tagen gefunden habe, wirkt, als sei es von einem vor Lampedusa Ertrinkenden gesprochen worden: Leben, das nicht gelebt wird sondern aufgebrummt. Menschen, von anderen Menschen nicht erwartet, sondern vorgeknöpft. Keine Eselsbrücken in die Freiheit. Vielleicht vermochte er wie die Dichterin auf Gott zu hoffen, von dem das biblische Zeugnis ja sagt, er zähle Haar und Tränen und könne doch auch den wankenden Meeresgrund zu einem Weg in die Freiheit machen. Es ist anders gekommen, vor Lampedusa. Seine Sehnsuchtsgeschichte wird aber nicht mehr verklingen, nicht nächstes Jahr am Osterfest und nicht danach; und Christen werden sie hören müssen, wieder und wieder, und sie wird furchtbar weh tun, wenn sie die Kerzen entzünden und jubeln und singen und dem Gott danken, der sie einst in die Freiheit führte.

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