Freitag, 29. März 2013

Für den, der fragt

Foto: Volker Adolf
Nicht das Kreuz steht im Zentrum meines Glaubens, das Kreuz rückt vielmehr die Botschaft Jesus in die Mitte
 

Von Norbert Bauer 

In den letzten Wochen wurden bei uns in der Kirche Wasserschäden beseitigt. Ein großes Gerüst war hier an der Seite aufgebaut. Zu Beginn der Arbeiten kam ich in die Kirche und stellte erstaunt fest, dass das Kevelaerkreuz verpackt war. Folien schützten es vor dem anfallenden Staub. Ich blieb stehen und fing an zu denken, viel mehr als sonst, wenn das Kreuz einfach so da hängt. Ich dachte über seine Geschichte nach, des Kevelaer Weg-Kreuzes. Früher stand dieser Korpus vor der Tür, da es aber beschädigt und zerstört wurde, entschied sich der Kirchenvorstand, das Original hier in der Kirche zu platzieren und eine Kopie an der Neusser Straße aufzustellen. Ich habe aber nicht nur über dieses konkrete Kreuz nachgedacht, sondern über die Szene, die durch die Baufolie verhüllt war. Ein Mann, beinahe unbekleidet, die Arme an einem Kreuz ausgebreitet, die Hände mit Nägeln durchbohrt, den Kopf nach unten gesenkt, die Augen geschlossen. Durch die Verhüllung wurde mir wieder bewusst: Was für ein brutales Bild! Dieses Bild ist nicht irgendein Bild, sondern das berühmteste Motiv der Kunstgeschichte, das mehrfach hier in der Kirche hängt, in beinahe jedem Museum dieser Welt und wahrscheinlich bei jedem von Ihnen zu Hause. Dieses Bild ist aber nicht nur ein Bild, sondern ist die Repräsentation der Mitte unseres Glaubens: Nicht der Stall von Bethlehem, nicht das leere Grab, nicht ein Bild des Auferstandenen hängt in jeder katholischen Wohnung oder um den Hals vieler Christen. Es ist das Kreuz, die gewaltvolle Darstellung eines Toten.

Ich stand vor dem verhüllten Christus, ging einen Schritt zurück und fragte mich: Was glauben wir eigentlich da, was glaube ich da? Warum glaube ich, dass diese Folterung, diese Hinrichtung für mich heute noch eine Bedeutung haben soll? Und zwar eine Heilsbedeutung? Und zwar die entscheidende Heilsbedeutung, scheint doch der Kernsatz unseres Glaubens zu sein: „Jesus ist für uns gestorben!“ und eben nicht: „Jesus hat für uns gelebt!“ Ist der Tod Jesu für uns, für mich wirklich wichtiger als sein Leben, sein Handeln? Ist das Sterben am Kreuz entscheidender als die Bergpredigt, die Heilungen der Kranken?  

Im letzten Jahr war Ulla Hahn bei uns zu Gast. Eins der Gedichte das sie vorgetragen hat heiß „Mein Gott“. Darin heißt es: 

"Wofür das alles? Dein Leben/Leiden/Sterben.
Für den, der fragt."
 

Ist die Antwort Jesu in diesem Gedicht. Also fange ich an zu fragen und stelle fest, dass ich nicht alleine frage: Die Frage, welchen Sinn hat der Tod Jesu am Kreuz, wird zurzeit von vielen wichtigen deutschen Theologen kontrovers diskutiert. Ausgangspunkt der Kontroverse ist Frage, ob der Tod Jesu für sein Heilswirken alternativlos war. Wäre dem so, wäre der Tod am Kreuz schon in der Krippe vorgezeichnet gewesen, wäre Gott in Jesus nur in die Welt gekommen, um ans Kreuz genagelt zu werden. 

Das war aber nicht das Motiv der Menschwerdung Gottes. Gott ist nicht Mensch geworden, um auf grausame Weise zu sterben, sondern um durch Jesus das Programm seines Namens neu zu verkünden: Gott ist da – mitten unter uns ist sein Reich schon angebrochen. Und wie dieser Gott für uns ist, zeigt Jesus in seinem Leben. Er zeigt einen Gott, der da ist für die Menschen, die am Rande stehen, die krank sind; er zeigt einen Gott, der da ist für die Menschen, die Schuld auf sich geladen haben. Er erzählt von diesem Gott in Gleichnissen, die auch das sagen, was er lebt: Unser Gott ist der Gott, der bedingungslos ja sagt zu jedem Menschen, sogar und insbesondere für den Sünder. Ihm gilt besonders seine Liebe. Wenn ich die ersten Worte und Gesten des neuen Papstes sehe, scheint er genau da anzuknüpfen. Er spricht davon, dass die Kirche wieder an die Peripherie, zu den Menschen an den Rändern gehen muss, und Papst Franziskus tat dies auch gestern, als er zur Fußwaschung ins Gefängnis ging. 

Diese Botschaft kam an, das wissen wir. Jesus konnte schon bald Anhängerinnen und Freunde um sich sammeln. Diese Botschaft stieß aber auch bald schon auf Ablehnung, auch das wissen wir. Sie stieß vor allem auf Ablehnung bei den mächtigen Menschen, die ein anderes Gottesbild predigten und von diesem Gottesbild profitierten. Diesen Menschen wollte Jesus nicht aus dem Weg gehen, er wollte sich ihnen stellen. Und dafür gab es nur einen Ort: Jerusalem. Jesus wusste: Wenn er seiner Botschaft Geltung verschaffen wollte, musste dies in Zentrum der Macht in Jerusalem geschehen. Damit setzte sich, da sind sich alle Exegeten einig, Jesus auch zugleich der Gefahr der Gefangennahme und des Todes aus. Er ging aber nicht nach Jerusalem um zu sterben, sondern um seiner Botschaft Nachdruck zu verleihen. Jesus wollte den Glauben provozieren, nicht seine Hinrichtung. 

Und was er dann tat, war wirklich eine Provokation. Er ging in den Tempel und störte da die Ordnung. Warum tat er das? Er tat es nicht, um den Tempelkult abzuschaffen. „Wie jeder andere Jude seiner Zeit wird auch Jesus den Kult als von Gott gesetzte Ordnung begriffen haben. Nicht Tempel und Kult als solche waren für Jesus das Problem, sondern die Art und Weise wie man sie beanspruchte" (Helmut Merklein). Die Haltung hinter einem falsch verstandenen Opferkult widersprach nämlich diametral der Botschaft Jesu. Hieß die eine Botschaft: Gott liebt dich erst dann, wenn du ihm ein Opfer gebracht hast! heißt die Botschaft Jesu: Gott liebt dich ohne vorherige Leistung, Gott liebt dich bedingungslos. Um diesen Unterschied aufzuzeigen, ging Jesus in dem Tempel, und weil er wusste wie provokant dies war, rechnete er auch mit seinem Tod. 

Diesem Tod wich Jesus nicht aus. Er wich diesem Tod nicht aus, weil er trotz aller Zweifel, die ihn im Garten Gethesemane übermannten, hoffte und glaubte, dass die bedingungslose Liebe Gottes sich auch in seinem Tod erweisen würde. Gottes Ja zu den Menschen wird auch hier offenbar werden. Gott wird den Tod nicht das letzte Wort sein lassen. Deswegen ist Jesus dem Kreuz nicht aus dem Weg gegangen, denn er war überzeugt: Mein Tod wird meiner Botschaft nicht widersprechen, sondern ihn bestätigen. 

Wenn ich mit diesem Gedanken vor dem Kreuz stehe, erhält das Kreuz eine neue Bedeutung für mich. Nicht das Kreuz steht im Zentrum meines Glaubens, das Kreuz rückt vielmehr die Botschaft Jesus in die Mitte: Gott sagt Ja zu uns Menschen, vor allem zu denen, die am Rande stehen. Daher ist es auch bezeichnend, dass Jesus dort starb, wo er auch sein Leben verbrachte: an der Seite von Ausgestoßenen. 

Mit diesem Gedanken kann ich auch den Satz "gestorben für unsere Sünden" besser einordnen. Allzu oft wird der Satz ja nur so verstanden: Weil wir Menschen so sündig waren und sind, musste Jesus sterben, um uns zu erlösen. Ich will den Satz auch anders verstehen. Weil Gott auch im Tod Jesu gezeigt hat, dass sein Ja bedingungslos gilt, kann ich als Mensch, der nicht ohne Schuld durchs Leben kommt, mit dieser Schuld anders leben. Denn Gott öffnet wie ein barmherziger Vater als erster die Arme. Ich muss Gott nicht erst durch Opfer oder andere Anstrengungen gnädig stimmen. Die Ikonographie des Kreuzes hat diesen Gedanken umgesetzt. Die ersten Darstellungen des Kreuzes finden wir erst Mitte des 5. Jahrhunderts. Auch eine erstaunliche Tatsache. Bei dieser Darstellung hängt Jesus nicht am Kreuz sondern steht davor. Erst für das Ende des 6. Jhd. wird eine Darstellung Jesu am Kreuz bezeugt. Und diese ersten Darstellungen versuchen gar nicht, die historischen Tatsachen zu rekonstruieren. Die Historiker vermuten, dass eine Kreuzigung nicht mit ausgestreckten Armen, sondern mit nach oben ausgerichteten Armen vollzogen wurde. Die Kunst entschied sich aber, Jesus mit ausgestreckten Armen darzustellen. Der Schrecken des Todes geht über in den Gestus des Umarmens. Wunderbar greift dieses Gedanken das Gedicht auf, dass Ulla Hahn letztes Jahr hier in der Kirche vorgelesen hat. Auch hier umarmt Jesus, vom Kreuz schon befreit.

Gleich wird ein verhülltes Kreuz in die Kirche getragen. Es wird nach und nach enthüllt. Dann können Sie vor das Kreuz treten. Vielleicht werden Sie dann wie Ulla Hahn fragen: "Wofür das alles? Dein Leben/Leiden/Sterben." Tun Sie das. Dem Kreuz können wir uns nicht ohne Fragen stellen. Und vielleicht erkennen Sie beim Fragen schon den Gott, der für uns die Arme offen hält.

1 Kommentar:

  1. Nein , auch ich glaube nicht, dass Jesus das Kreuz als Zeichen der unendlichen Liebe Gottes zu uns Menschen will bzw. wollte.Damit gilt es für mich, die ich mich sehr konkret für reformorientierten Glauben in der r.k.Kirche einsetze, aber NICHT als Zeichen einer Torheit oder des Ärgernisses, sondern es ist ein Zeichen, das dazu aufruft, die Menschen vom Kreuz zu holen. Es ist ein Aufruf, ein Plädoyer . Das Kreuz als Symbol stellvertretenden Leidens soll nicht mehr notwendig sein. Das Kreuz zeigt eine andere Möglichkeit auf, von der exklusiven Fixierung auf das stellvertretende Leiden wegzukommen durch ein Netz aktiver Solidarität.
    Heute könnte sich für Christen die Erinnerung an den leidenden Jesus zum Beispiel in der Solidarität mit den Flüchtlingen in unserer Gesellschaft bewähren - eine Million leben, behördlich nicht geduldet, illegal unter uns. Um Abschiebung als Kreuzeserfahrung zu verhindern, ist immer wieder ein Stück Widerstand und Solidarität nötig, bis hin zum Kirchenasyl. Ein Netz aktueller Solidarität, die ihre Kraft gerade in kirchlichen Kreisen aus der Erinnerung an den Flüchtling Jesus zieht. - Eine Kreuzverehrung, wie es in der katholischen Karfreitags-Liturgie (und am 14.September im Fest Kreuzerhöhung)vorgesehen ist, lehne ich ab,weil es eben gerade NICHT um das Kreuz geht, das verehrt werden soll, auch nicht darum, den qualvoll am Kreuz erstickten (!!) Jesus aus Nazareth zu verehren, sondern sich zu erinnern, was diese Liebe, was sein Leben ausgemacht hat, was es für uns in der Konsequenz als Christen bedeutet. Darum geht es, und das ist etwas qualitativ völlig anderes, als das Kreuz als Liebesartefakt in den Mittelpunkt zu stellen und davor auf die Knie zu fallen. Das hat dieser unfassbare Gott und dieser einmalige Mensch Jesus nicht nötig, wenn man offenen Augens sein Leben begreift und erfaßt. Dass Gott immer bei uns ist, lerne ich durch das, was Jesus gelebt hat. Dazu brauche ich seinen Tod am Kreuz nicht. Die eigenen Kreuze im Leben und in der Welt zu erkennen und sich in Achtsamkeit, Freiheit und Liebe für das Leben, die Freiheit und Wahrheit der Menschen einzusetzen ist Aufgabe genug.

    Wir wissen es hinlänglich, ziehen aber nicht die Konsequenzen daraus:

    «… dass in der Weltgerichtsrede in Mt 25 (wenn Christus in den kranken Menschen gegenwärtig ist und besucht wird …) Gott in Christus die Vergehen den Menschen gegenüber als Vergehen gegen sich selbst ahndet, dass Gott also nicht darauf besteht, die Vergehen gegen sich als Gott (Unglaube, Blasphemie usw.) ins Gericht aufzunehmen. Hier gilt eher Hosea 11, dass sich Gott selbst ins Gericht nimmt und nehmen lässt, dass Gott nicht anders kann als dem Volk den Unglauben gegenüber sich selbst zu verzeihen.» [Ottmar Fuchs in der Festschrift für Leo Karrer «Glaubwürdigkeit der Kirche …» ]
    - Will Jesus, dass wir uns so aggressiv für das Aufhängen von Kruzifixen einsetzen. Und – im Hinblick auf den Karfreitag – dass wir mit Innbrunst das Kreuz verehren? Würde er nicht eher mit einem alten MISEREOR-Slogan fordern: «Nehmt den Menschen vom Kreuz»?

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