Foto: Peter Otten |
Maldoom ist fast zwanzig, ist gerade nach London gezogen, er hat sich als technischer Zeichner versucht und in der Landwirtschaft. Aber eine konkrete Vorstellung, in welche Richtung es gehen soll, hat er nicht. Bis Freunde von ihm an jenem schicksalhaften Abend vorschlagen, im Kino einen Tanzfilm anzuschauen. „Ich verstand nichts vom Ballett, hatte bis dahin weder Erfahrungen damit gemacht noch ein Interesse dafür entwickelt“, erzählt er. Und dann das: „Als die Lichter am Ende des Films wieder angingen, weinte ich. Ich hatte etwas Unfassbares erlebt, konnte es gedanklich noch nicht verarbeiten, ich war fasziniert und bewegt und, um es auf den Punkt zu bringen, vollkommen verknallt.“ Zwei Tage später bewirbt er sich in Cambridge als Tanzschüler. Er hat sie selbst erlebt, diese Kraft der Kunst, die einen Menschen total herausfordert. Und in seinem Fall sogar eine Berufsentscheidung provoziert. Transformation nennt Maldoom das, tausende Male hat er sie schon erlebt, im Kleinen und im Großen, bei unzähligen Tanzprojekten, die Maldoom seit den siebziger Jahren angestoßen und durchgeführt hat, vor allem mit Kindern und Jugendlichen in Schulen und Bürgerzentren, aber auch mit traumatisierten Kriegsopfern und mit benachteiligten Menschen in Europa, Lateinamerika oder Afrika. Immer geht es darum, mit Menschen, die noch nie getanzt haben oder mit klassischer Musik in Berührung gekommen sind, eine Tanzaufführung zu erarbeiten. „Bei einigen tritt die Veränderung schon bald ein, bei anderen braucht es viel Zeit.“ Bei den meisten finde die Transformation in dem Augenblick der größten Furcht statt: Wenn das alte Bild, das Menschen von sich haben, das Maldoom „das Adoptivkind“ nennt, zerfällt. Jenes zur Gewissheit erstarrte Selbstbild, seit je her und für immer ein Mensch ohne Selbstvertrauen zu sein. Ein Mensch ohne Eigenschaften. Ein Bild, das gerade Jugendliche akzeptierten, weil es zumeist das einzig Verlässliche in ihrem Leben sei: „Oft empfangen sie einen direkt mit den Worten: „Wir sind dumm, wir sind wertlos“, weiß Maldoom. Und dann beginnt der Künstler damit, dieses Selbstbild zu erschüttern. Er glaubt unumstößlich an das Potential eines jeden, an das dieser nicht mehr oder noch nie geglaubt hat: „Aber dann wehrt sich die Puppe gegen den herausdrängenden Schmetterling.“ Und doch, bislang, in all den Jahren sind es immer Schmetterlinge gewesen, die am Ende davongeflogen sind. „Veränderungen geschehen auf ganz verschiedenen Ebenen: Ein Gemeindesaal wird zu einem Theater, eine Gruppe von Unterstützern im Hintergrund formiert sich, die Zuschauer nehmen andere Dinge wahr – und vieles mehr.“ Die Wurzel dessen aber, das sind die persönlichen Veränderungen der Teilnehmer. Je mehr sie der Tanz gefangen nimmt, weiß er, desto deutlicher zeigen sich die Veränderungen in ihrer Haltung, sich selbst und ihrer Umwelt gegenüber.
Das funktioniert, weil Maldoom als Künstler in die Arbeit einsteigt. Als Tänzer und Choreograph. Und indem er bei den vorhandenen Potentialen der Menschen ansetzt und nicht bei ihren Schwächen und Defiziten. „Ich bin kein Therapeut und auch kein Sozialarbeiter-Choreograph.“ Wenn er mit einer Gruppe arbeitet, dann sind Strafgefangene, Kriegsflüchtlinge oder Schülerinnen und Schüler aus sozialen Brennpunkten Menschen, die schlicht Großartiges leisten können. Ihre Biographie interessiert den Choreographen nicht, und ihre persönlichen Schicksale sind nicht das, was Maldoom auf der Bühne sehen will. Dort steht der Tanz, das gemeinsame Kunstprojekt im Mittelpunkt: „Ich verlange immer nur, das zu tun, was das Stück, den Tanz, am besten macht. Das ist das ganze Geheimnis. Ich kümmere mich nicht darum, wo die Kinder herkommen und was sonst in ihren Leben alles los ist; sie wollen auch nicht daran erinnert werden. Sie wollen was Neues, Aufregendes. Und der Tanz ist aufregend.“ Das ist die Wurzel der Transformation: Die, die da tanzen, sind gleich. Wegen der Kunst, um die es geht: „Da beginnen die sozialen Beziehungen, und zwar in Abhängigkeit von dem, was die Choreografie verlangt. Und das entlastet die Kinder von ihren Problemen. Sie müssen was riskieren, und sie schaffen etwas, sie schaffen es sogar gut, und dadurch machen sie sich ein neues Bild von sich: Wow, ich kann das, ich bin viel besser, als ich dachte. Ich bin gar nicht das Opfer, ich bin nicht die Dicke, ich bin nicht das arme Kind arbeitsloser Eltern.“ „Ich bin doch kein Geschichtenpool für andere“, hat einmal eine Frau entgegnet, als ein Kritiker meinte, der gezeigte Tanz habe nichts mit ihrer Geschichte als traumatisierte Frau im nordirischen Bürgerkrieg zu tun. „Ich bin hierher gekommen, weil ich schön sein möchte.“ Schön sein heißt für den Künstler Royston Maldoom, ein Jemand zu sein und kein Niemand mehr. Jeder Mensch ist ein Künstler. Wenn sie selbst nicht daran glauben, Royston Maldoom weiß es. Und konfrontiert sie damit. Mit Penderecki, mit Strawinsky, mit Höreindrücken jedenfalls, die vor allem den Jugendlichen völlig fremd sind.
Das aber ist genau das, worum es geht: „Kunst erlaubt es uns, über stereotype Bilder der Gemeinschaft und die Begrenzungen des Selbst hinauszugehen.“ Es geht nicht um das, was man selbst oder andere vermeintlich über einen wissen. Es geht um das ganz andere, was vielleicht noch schlummert, was aber vielleicht mehr als alles andere zu einem gehört. Denn die Begegnung mit der fremden Musik, verbunden mit ungewohntem körperlichem Ausdruck ist auch die Begegnung mit dem Fremden in den Teilnehmern selbst. Aber nur die Konfrontation damit macht Entwicklungen möglich, weiß Maldoom: „Es ist anregend, die Vorstellungen der Teilnehmer über Musik und Tanz in Frage zu stellen, man kann so die Aufmerksamkeit auf andere Erscheinungsformen der Kunst lenken. Reflexion und der Austausch über die gemachten Erfahrungen führen zu einem Verständnis des zurückgelegten Weges und der eingegangenen Risiken, erlauben uns so, das Unbekannte anzunehmen, und verringern dadurch die Ängste vor dem Anderssein.“ Maldoom weiß aber auch, dass diesem Gedanken die Vorstellung eines Kulturbegriffes entgegensteht, der ihn nicht nur langweilt, den er sogar schädlich findet. „Kultur muss für alle verfügbar sein“, kritisiert er. „Teilhabe an den Künsten trägt viel dazu beiträgt, dass der Einzelne ein Gefühl des eigenen Werts entwickelt.“ Dies sei eine Binsenwahrheit. Und warum solle diese denjenigen vorbehalten bleiben, die es bezahlen könnten? „Der Zugang zur Kultur ist auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Kultur macht uns zu dem, was wir sind, sie lässt uns erkennen, wer wir sind. Und so fördert sie unsere Mitmenschlichkeit.“ Gerade Musik und Tanz seien eine Sprache für Leute, die sich mit Sprache schwer täten. „Kunst öffnet die Menschen für die Welt, auch die Opernhäuser sind für alle da.“
Oder Philharmonien. Das sieht auch Simon Rattle, Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, so. 2003 fanden sich Maldoom und er für ein Projekt zusammen, welches Maldoom und seine Idee vom „Community Dance“ schlagartig in Deutschland bekannt machte. In vier Wochen realisierte der Choreograph gemeinsam mit Rattle und 250 Kindern aus Berliner Problemschulen eine umjubelte Aufführung von Strawinskys „Le sacre du printemps“. Der Kinoerfolg „Rhythm is it!“ zeigte 2005 den schwierigen Weg dahin. “Ich glaube, in einer Gesellschaft, in der Menschen immer selbstbezogener werden, braucht man alles, was Menschen verbindet“, sagt Rattle. Musik, die Künste insgesamt seien immer Teamwork und Kreativität, meint er. „Sie sind wahrscheinlich der beste Weg, Menschen zu zeigen, wie sie Beziehungen knüpfen, wie sie Teams bilden und ihre Gefühle ausdrücken lernen. Gerade für Jugendliche, wenn alles in ihnen aufbricht und sie sich fühlen müssen als zerplatzten sie. Die Kunst hat einen unglaublichen Einfluss auf all das.“ Darin sind sich Rattle und Maldoom einig, daher fanden sie wohl überhaupt zusammen: „Musik ist für alle da! Sie gehört nicht nur reichen Geschäftsleuten und deren Frauen. Eine Philharmonie ist keine Diva, die du anhimmeln musst. Sie ist ein Ort, an dem die außergewöhnlichste emotionale Musik gemacht wird – und die sollte jeder haben.“
Leidenschaft ist also wichtig, aber auch harte Arbeit. „Nichts ist aufregend, wenn es nicht zugleich ein Risiko bedeutet“, sagt Rattle. Die größte Herausforderung für Menschen, die noch nie getanzt haben und auf einmal Balletttänzer sind, ist vielleicht das, was Maldoom „Focus“ nennt: „Focus bedeutet Stille, Körperspannung, Konzentration, aufrechte Haltung – ohne Focus geht beim Tanzen nichts. Das Erreichen eines Focus ist sehr anspruchsvoll. Positionen und Bewegungsabläufe werden so oft wiederholt, bis alle Schüler die Position oder Bewegung konzentriert und ohne zu reden ausführen können.“ Wer nicht mehr redet, redet durch seinen Körper und dann auf einmal mit den Körpern der anderen. Den jungen Leuten mangelt es daran. Diese Grenze zu übersteigen ist für Maldoom dann auch stets die größte Herausforderung, wenn er mit jungen Leuten arbeitet. Und doch ist für ihn Focus etwas anderes als Disziplin: „Wenn man die jungen Leute danach gefragt hat, was der Unterschied zwischen Royston und einem normalen Lehrer ist, sagten sie: Nun, unsere Lehrer disziplinieren uns immer, aber Royston bringt uns einfach dazu, es zu machen. Das Wort Disziplin wird stets irgendwie mit Kontrolle in Verbindung gebracht – aber meine Art von Disziplin, an der ich interessiert bin, ist eine, bei der die Person die Kontrolle übernimmt.“ Wenn das gelungen ist, haben die, die auf einmal Tänzer sind ein Tor in eine neue Welt aufgestoßen. Sie ahnen vielleicht zum ersten Mal, wer sie sind, welchen Platz in der Welt sie einnehmen können. Und das ist nicht der, den andere ihnen bisher zugewiesen haben. Das ist das Entscheidende: „Durch einen solchen Auftritt bekommen Kinder Macht. Sie haben die Kontrolle, werden Gebende, Lehrer, Wohltäter, sind nicht mehr auf die Wohltaten anderer angewiesen. Viele Kinder sind das erste Mal in einer solchen Position, und das kann ihr ganzes Leben verändern.“ Und nicht nur das eigene Leben. Es entstünden oft Netzwerke von Menschen unterschiedlichster Herkunft mit unterschiedlichen religiösen und politischen Überzeugungen, die sich anders als im normalen Leben in der künstlerischen Arbeit nicht voneinander abgrenzten: „In einer geschützten Arbeitsatmosphäre können Menschen sich anderen Gemeinschaften annähern, ohne ihre eigenen Grundwerte aufzugeben. Jeder von uns hat auf seine Art ein Bedürfnis nach Zugehörigkeit, auch wenn wir alle am Ende nur auf der Suche nach Wahrheit sind.“ Jemand habe ihm einmal Folgendes gesagt: „Das Wertvollste in einer Kultur sind immer Dinge, die man mit anderen Kulturen teilen kann.“ Du kannst dein Leben ändern – in einer Tanzgruppe.
Die lesenswerte Autobiographie von Royston Maldoom
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