Mittwoch, 27. März 2024

Die Banalität des Heils

Screenshot: Peter Otten
Wir dürfen gerade in der Kirche der Banalität des Bösen nicht die Banalität des Heils entgegensetzen. Denn Gott und mit ihm alles, was lebt können verschwinden. Gedanken zum Karfreitag.

Von Peter Otten

Ein Häftling im KZ Auschwitz hat Hedwig Höß ein Wäschebündel gebracht. Die Wäschestücke werden auf einem Tisch ausgebreitet. Die Bediensteten, allesamt ebenfalls Häftlinge greifen schweigend zu. Ein Pelzmantel wird in ihr Ankleidezimmer getragen. Hedwig Höß, die Frau des Lagerkommandanten des KZ Auschwitz, schlüpft hinein. Die Kamera beobachtet, wie sie sich ein wenig ungelenk vor dem Spiegel hin- und herdreht. In der Tasche findet sie einen Lippenstift. Später wird sie sich mit diesem Lippenstift ihre Lippen färben; die Farbe später wieder mit einem Taschentuch abwischen. Den Pelzmantel wird sie einer ihrer namenlosen Bediensteten in die Hand drücken. Sie möge ihn reinigen und einen losen Saum wieder richten, wirft sie ihr im Vorbeigehen zu. 

Eine Szene aus dem Film „The Zone Of Interest“ des britischen Regisseurs Jonathan Glazer. Vor ein paar Wochen ist er mit fünf Oscars ausgezeichnet worden.

Es ist sein Geburtstag, als Rudolf Höß Vertreter der Firma Topf und Söhne in seinem Büro empfängt. Es ist eine der wenigen Szenen, in der die Kamera nah heranrückt. Der Firmenvertreter erläutert Höß in einem geschäftigen Singsang die Funktion eines rotierenden Verbrennungsofens, der die Effizienz der Krematorien im KZ in bisher unvorstellbare Höhen treiben soll. Nachmittags vertreibt sich die Geburtstagsgesellschaft die Zeit im Garten der Villa, die Höß mit seiner Familie unmittelbar an einer Außenmauer des Lagers bewohnt. Kinder plantschen im Pool. Liegestühle und Limonade. Überm Gewächshaus, fast unbemerkt, wie in einer Kinderzeichnung, zieht der Faden einer Dampfwolke ins Bild. Ein Zug mit neuen Häftlingen fährt ins Lager ein.

Die Unerträglichkeit des Films ist die beiläufige beständige Anwesenheit des Grauens. Sein permanentes Grundrauschen in der nie versiegenden Tonspur des Films: Hundegebell. Schreie der Häftlinge. Gebrüll der SS-Wachen. Schüsse, Schläge, dumpfes Toben. Das Grausen liegt aber auch über der unangenehmen bürgerlichen Spießigkeit. Nichts ist schön, alles ist höllisch, grausig, falsch. Die Gespräche, die Frisuren, das Essen bei Tisch, Möbel, Zierrat, ja sogar die Blumen und Pflanzen im Garten, deren Namen Hedwig Höß alle herunterrasseln kann. Ungefähr in der Mitte des Films zeigt der Regisseur drei, vier Blumenblüten in einer Großaufnahme. Sie erscheinen auf der Leinwand wie sorgfältig fotografierte Blüten für einen Kalender. Aber selbst die Blüten senden eine unerträgliche zynische Kälte aus und verschwimmen am Schluss in der blutroten Leere der Leinwand.

Von der Banalität des Bösen hat die Philosophin Hannah Arendt gesprochen, als sie den Prozess gegen Adolf Eichmann beobachtet hat. Die Beiläufigkeit des Bösen in diesem Film ist beispiellos, unerträglich und überwältigend. Als ich aus dem Kino hinausging, habe ich gedacht: Wir dürfen der Banalität des Bösen aber nicht eine Banalität des Heils entgegensetzen. Wir Christinnen und Christen schon mal gar nicht. Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben, im Kreuz ist Hoffnung. Mit den Bildern aus dem Film „The Zone Of Interest“ im Kopf klingt dieser Satz, mit dem Christinnen und Christen heute in aller Welt das Kreuz verehren erstmal zynisch und gewissenlos und selbst wie ein böser Satz. Wenn im Kreuz Heil ist – wieso war Auschwitz dann möglich?

Was also tun? In einem Interview hat die Schauspielerin Sandra Hüller, die Darstellerin der Hedwig Höß mit dem Blick auf die Bedeutung des Films gesagt: „Ich finde es so wichtig, das anzuerkennen: Dass es möglich ist, dass jeder Mensch im Grunde dazu in der Lage ist, und dass es eine große Achtsamkeit erfordert, mit allen Impulsen (in uns), die ausschließend, abwertend sind immer wieder umzugehen. Und die genau zu beobachten, an welchen Stellen wir denn ähnlich handeln wie die Leute dort.“ Der Film „The Zone Of Interest“ zeigt schonungslos, wie das Böse in die Welt dringt, vollumfänglich, umfassend, wie ein unsichtbarer Nebel. Der Film macht es dem Betrachter unmöglich, sich dem Bösen zu entziehen. Und wie Sandra Hüller zu Recht bemerkt hält er die beunruhigende Botschaft wach, dass sich niemand vom Bösen dispensieren kann, auch nicht derjenige im Sessel im Kino. Auch nicht derjenige in der Kirchenbank.

Was also tun? Eine Möglichkeit: Sich das Böse genau anzuschauen und ihm nicht auszuweichen. Das Kino ist da äußerst schonungslos. Und auch die Bibel ist da sehr ehrlich: Der Brudermord von Kain an Abel. König David, der berechnend den Mann der Frau, die er begehrt um die Ecke bringt. Und am Karfreitag die Geschichte von Jesus, über den Christinnen und Christen sagen, dass er doch die personifizierte Zuwendung Gottes war und trotzdem abgelehnt, verraten, ignoriert, verspottet und getötet wird. Es sind keine Geschichten, an die wir uns fromm, schaudernd und ein bisschen fremd erinnern. Es sind Geschichten, die vom Tod Gottes erzählen. Und sie ragen bis in unsere Zeit, bis in unsere Kirche hinein und dauern fort bis in die vielen unermesslichen Passionsgeschichten unserer Tage. Die Geschichten der Betroffenen sexualisierter Gewalt, deren Leid immer noch zu viele Menschen auch bei uns in der Kirche nicht scheren. Die Geschichten von Machtbesessenheit, Diskriminierung, Lieblosigkeit, Ignoranz. Das Leid der so genannten Nutztiere in den Schlachthöfen. Das Geschrei im Internet. All die Geschichten der organisierten Verantwortungslosigkeit, der schulterzuckenden Verwahrlosung, des „Das bist du selbst schuld!“, „Da bin ich nicht zuständig!“

Die Banalität des Heils bestünde darin, sich vorschnell wie unter Drogen ins Ostern zu flüchten. Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand. Diese Dinge. Diese Sprüche. „The Zone Of Interest“, der Karfreitag und all die Passionsgeschichten unserer Tage zeigen: Doch, das geht. Gott und mit ihm alles, was lebt können verschwinden. Orte können zu Unorten werden. Die Welt zur Unterwelt. Alles, was lebt kann ins Nichts fallen. Machen wir uns da nichts vor, auch nicht in unserer Kirche. Die Bibel erzählt unterdessen etwas vollkommen Verrücktes: Gott selbst fällt mit ins Nichts hinein. Genau das könnte die Pointe des Tages sein. Ein Gott, der fällt ist kein Gott, wie alle anderen. Ein Gott, der fällt, ist ein starker Gott.

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