Mittwoch, 7. Oktober 2020

Du sollst deinen Superspreader lieben wie dich selbst

Foto: Peter Otten

Was kommunizieren Gesellschaften, die andere zum Gegner
erklären und gleich das ganze Land zum Risikogebiet? Was passiert in Schulen und Kirchen, in denen der Nächste nicht mehr der Nächste ist, sondern einer, der möglicherweise krank macht? Schon länger finden an vielen Stellen semantische Verschiebungen statt - mit beachtlichen Folgen. In der Corona-Pandemie verschärfen sie sich. Theologie, Kirche und Seelsorge hätten dazu einiges zu sagen.

Von Peter Otten

Ein Einschulungsgottesdienst nach den Sommerferien. Wegen Corona findet er auf dem Schulhof statt. Eine beeindruckend ernsthafte und doch fröhliche Feier. Zu Beginn spricht ein Lehrer zu einer neuen Schülerin. Er bittet sie, eine Maske aufzusetzen. Das Kind ist offensichtlich erschrocken. Der Lehrer wiederholt seine Bitte. Das Klind bleibt starr und schweigt. Mir wird klar: Es hat den Lehrer nicht verstanden. Er trägt ja eine Maske, und offensichtlich ist es für das Kind schwer, das Gesagte zu entschlüsseln - so ganz ohne die Bewegungen des Gesichts, ohne die Bewegungen von Mund und Lippen. Das Kind beginnt zu weinen. Die Mutter läuft herbei, nestelt eine Maske aus der Tasche, gibt sie dem Kind. Nimmt das Kind in den Arm.

Ein Gespräch mit Eltern. Darunter ein Lehrer. Er hat nach den Ferien eine neue Klasse übernommen. In der Klasse tragen ale Fünftklässler eine Maske. Die Schule hat sich freiwillig darauf geeinigt. Der Lehrer sagt, er sei eines Tages mit allen Kindern während einer Unterrichtsstunde auf den leeren Schulhof gegangen. Dort hätten alle Kinder die Masken abgenommen. Er habe endlich mal alle Kinder wahrgenommen und zum ersten Mal in alle Gesichter geschaut. Er habe ja gar nicht gewusst, wer sie wirklich seien.



Eine Kommunionfeier in St. Agnes. Vor dem Beginn kommt eine Großmutter auf mich zu. Sie bedankt sich für die Organisation. Sie sei sehr froh, wie das hier organisiert sei, mit zwanzig Gästen pro Familie. Sie sei zu einer anderen Erstkommunion eingeladen gewesen. Dort hätten coronabedingt aber nur das Kind, der Vater und die Mutter am Gottesdienst teilnehmen können. Ob keine andere Möglichkeit erörtert worden sei, frage ich. Ihrer Kenntnis nach sei das so angeordnet worden. Für mich übrigens und ich glaube für die meisten Mitfeiernden waren die sechs Erstkommunionfeiern in diesem Jahr unglaublich tiefe, nachhaltig tragende, im besten Sinn feierliche Gemeinschaftserfahrungen. Ohne Übertreibung Höhepunkte in meiner Zeit in der Agnespfarrei.

In der Gesellschaft findet gerade eine semantische Verschiebung statt. Menschen, MitschülerInnen, Gäste, Nachbarn sind nicht mehr länger Menschen, Mitschülerinnen, Gäste oder Nachbarn, sondern vor allem potentielle Gegner. Virenträger, Krankmacherinnen, Virenschleudern, Spreader. Nein, sogar SUPERspreader. Der Nächste scheint zum Feind zu werden. Die Nächste ist die, vor der ich mich abgrenzen muss. Abgrenzung und Distanz - paradoxerweise das neue Wir. Über hundert Länder und Regionen sind derzeit von Deutschland zu Risikogebieten erklärt worden. Risikogebiete - da dachte ich früher an Vulkanausbrüche, Erdbeben und Bürgerkriege. Sicher nicht an einen Campingplatz in Vlissingen. Was denkt ein Mensch, der in Vlissingen oder Wien lebt - über sich selbst und über die, die ihn, seine Stadt oder seine Region im Grunde "riskant" nennen?

Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich möchte nicht der Leichtfertigkeit das Wort reden, nicht dem Leichtsinn und der keinesfalls gerechtfertigten Sorglosigkeit. Dass die Zeiten ernst sind ist doch keine Frage. Und dass der Ernst ernst genommen werden muss doch auch nicht.

Dennoch: Muss es nicht besorgt machen, dass die um sich greifende Angst gerade mehr und mehr das Heft des Handelns bestimmt? Die Welt zerfällt und beäugt sich zunehmend misstrauisch. Das tat sie schon vor Corona. Das galt und gilt für die Beziehungen von Staaten (die besorgniserregende Lage in der EU), für Institutionen (wer hätte vor wenigen Jahren gedacht, dass die Deutsche Bank vor dem Aus steht oder die Commerzbank teilverstaatlicht ist?) Demokratische Strukturen werden in Teilen prekärer. Und nun droht die Corona-Krise auch noch den Rest von Beziehungsstruktur in der Kultur, der Feierkultur, in den Kirchen, in den persönlichen Freundschaften und Beziehungen, in den Familien zu pulverisieren. Wir sind umgeben von Verdächtigen. Was auch die digitale Kommunikation, die ja vor allem auch wegen ihrer aseptischen Struktur so verführerisch effizent erscheint nicht heilen kann - zumal weite Teile der Menschen von der Digitalisierung abgeschnitten sind.

In zweieinhalb Monaten feiern wir Weihnachten. Es ist das rätselhafte Fest dessen, was TheologInnen mit ungelenken Begriffen bezeichnen. Zum Beispiel mit dem Wort Inkarnation, gedeutet in der Begrüßungsszene von Maria und Elisabeth: Das Wort ist Fleisch geworden. Inkarnation, dass bedeutet ja wohl die totale Solidarität Gottes mit der Schöpfung, und zwar vor allem in ihrer ganzen Verwundung und Kontingenz. Somit wird die Schöpfung im Weihnachtsfest als Ausdruck Gottes markiert, in dem seine Herrlichkeit manifest ist - allerdings verschüttet und dadurch irritierend. Das Bild des Kindes in der Krippe trägt ja schon das Karfreitagsbild des in seiner Solidarität mit der Schöpfung verwundeten Gottes in sich. Das Bild steckt übrigens auch in der Frage Jesu im Gleichnis vom barmherzigen Samariter: Wer ist ihm zum Nächsten geworden?

Ich habe den Gedanken der Inkarnation immer als sinnstiftend und eine Stärke des Christentums empfunden. Der Gedanke der Inkarnation ist freilich auch ein riskanter. Das Kind in der Krippe, der verwundete Gott am Karfreitag, die Frage nach dem nächsten - das sind göttliche Bekenntnisbilder zum Riskanten, zum Entsetzlichen, zum Unbegreiflichen der Schöpfung. Die biblische Tradition ist ja voll von Bildern, in denen sich Gott aussetzt. Die Geschichte vom Auszug Israels aus Ägypten in die Wüste. Ein einziges Abenteuer.

In der aktuellen Ausgabe der Herderkorrespondenz schlägt Hartmut Rosa vor, die Lebensrelevanz der Kirche neu zu entdecken: "Die entscheide Frage (...) lautet: Wo kann der Sinn für Leben, für eine andere soziale Ordnung herkommen? (...) Die Kirchen können einen Sinn für ein anderes In-der-Zeit-Sein eröffnen, einen Sinn für eine andere Weltbeziehung, die eben nicht auf Verfügbarkeit von Welt abzielt."

Ist es nicht tatsächlich an der Zeit, die in der Corona-Krise nach oben gespülten existenziellen Themen in den Blick zu nehmen und gemeinsam religiös zu deuten (anstatt ihnen auszuweichen)? Angst, Krankkeit, Einsamkeit, Grenzerfahrungen, Endlichkeit, Tod, Krisen, Sinn, Beziehungen, Scheitern, Sehnsucht, Gemeinschaft? "Insbesondere die kirchlich-liturgischen Praktiken können dabei hilfreich sein" schreibt Rosa weiter. "Wer betet oder einen Segen empfängt, dem wird eine neue Weise des Indie-Welt-Gestellt-Seins vor Augen geführt. Er partizipiert an einem Reichtum menschlicher Erfahrungsmöglichkeiten. Wo sonst gibt es so etwas? Die Fähigkeit, Ehrfurcht, Dankbarkeit oder Demut zu empfinden, gehören für mich dazu." Die Fähigkeit, sich der Kontingenz und den Lebensrisiken zu stellen und ihnen nicht auszuweichen gehört meines Erachtens auch dazu, so würde ich ergänzen. Auch die Konfrontation mit eigenen Ängsten. "(...) Als Soziologe (...) kann (ich) zumindest feststellen, dass die Kirchen Zugänge zu menschlichen Erfahrungen eröffnen, die es sonst nicht gibt" so Rosa weiter. "Die Kirchen sollten ihre Ressourcen nutzen, um einen Geschmack für andere soziale Formationen und Beziehungsqualitäten wach zu halten."

Wenn das stimmt, dass Gott sich in seiner Schöpfung zeigt, dann muss der Mensch auch in der Krise Geschöpf bleiben dürfen. Wenn es stimmt, dass Gott sich in dem zeigt, der mir zum Nächsten wird, dann muss der Nächste auch der Nächste bleiben dürfen. Wenn es stimmt, dass Gott sich in der Krippe und am Karfreitag in einzigartiger Weise riskant zeigt, steckt darin auch die Erkenntnis, dass das Risiko, die Verwundung, das Kontingente Teil des Lebens ist. Der Gott in der Krippe integriert das Riskante. Die Kirchen, wir Christinnen und Christen könnten also zeigen, dass es Antworten darauf gibt, wie das geht: mit dem Corona-Virus zu leben.

3 Kommentare:

  1. Verständlich, dass H. Rosa in dem Beitrag für die Herderkorrespondenz von den Kirchen schreibt. Ich würde das gern auf "Religionsgemeinschaften" erweitern.

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  2. Eine christlich-konservative Haltung ist zu befürworten; aber ein bibeltreuer christlicher Fundamentalismus ist abzulehnen. Nötig ist eine Reform im Sinne Alice Baileys. Mehr dazu auf meiner Internetseite (bitte auf meinen Nick-Namen klicken).

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  3. Ein sehr guter Beitrag, der noch einmal deutlich macht, wie wenig den Kirchen im Umgang mit der Corona-Krise eingefallen ist. Eigentlich nichts außer der Umsetzung der AHA-Regeln im Kirchenraum. Das absolute Minimum. Die Kommunikation einer Haltung, die über das Befolgen von Hygiene-Vorschriften hinausgehen würde? Fehlanzeige. Es ist wohl kein Zufall, dass in den ungezählten TV-Talkrunden des Jahres 2020 so gut wie nie Kirchenvertreter zu Gast waren. Werden sie nicht eingeladen? Haben sie nichts zu sagen? Werden sie nicht eingeladen, weil sie nichts zu sagen haben? Die Versäumnisse sind offenkundig. Peter Otten hat eine Spur gelegt, die aufgenommen werden sollte.

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