Sonntag, 13. Oktober 2019

Plädoyer für den Grenzgang

Foto: Peter Otten
Ausgerechnet der Fremde, der religiös Unmusikalische wird zum Heilsträger.  Katechese über Lk 17, 11-18 im DLF-Familiengottesdienst am 13. Oktober 2019.

Von Peter Otten

1. Grenzen

Im Purtschellerhaus, einer Berghütte unterhalb des Kehlstein im Berchtesgadener Land gibt es etwas Besonderes: Die Grenze zwischen Österreich und Deutschland führt mitten durch die Stube. Du kannst also quasi beim Bierholen vom einen Land ins andere hüpfen. Überhaupt: Wenn du in dieser Region wanderst weißt du nicht immer, in welchem Land du dich gerade befindest. Die Grenzen sind fließend. Es gibt nicht „wir hier“ und „die da“.

Die Erfahrung fließender Grenzen haben wir heute auch. Wir fahren nach Portugal und überqueren viele Ländergrenzen – und merken es fast nicht. Kein Pass. Kein Personalausweis muss gezeigt werden. Viele von euch werden mir zustimmen: es ist ein Segen, wenn Grenzen fallen.

 
Andere Grenzen sind und bleiben massiv. Bei uns in Deutschland, in Köln, im Agnesviertel: Die Grenzen zwischen denen, die sich eine Miete in der Stadt leisten können und denen, die am Rand leben. Die Grenzen zwischen denen, die private Schulen besuchen können und denen, die einen Platz in der Hauptschule bekommen. Die Grenze zwischen denen, die dazu gehören und denen, die draußen bleiben müssen. Übrigens auch bei uns in der Kirche. Beispiele gibt es ja genug.

In der heutigen Geschichte im Evangelium erleben wir Jesus als einen, der Spaß daran hat ein Grenzgänger zu sein. Er kostet die Grenze aus und scheint als sei er im Purtschellerhaus unterwegs. Er hüpft zwischen hier und dort, zwischen Heimat und Fremde hin- und her: Galiläa – Heimat, Gottesland, gesegnetes Land. Samaria – fremdes Land, fernes Land. Hin und her. Hin und her. Voller Neugier.

2. Aussatz

Und als Jesus mal wieder hin- und herhüpft und in irgendeinem Dorf ist: Da kommen zehn Menschen. Sie haben Lepra. Die Krankheit ist schrecklich. Ihre Hände sind verstümmelt. Die Beine auch. Die Gesichter hässlich aufgequollen. Weil die Krankheit ansteckend ist, müssen die Menschen abseits leben. Werden sie in speziellen Siedlungen ausgesetzt.

Weil die Medizin Fortschritte gemacht hat ist diese Krankheit heute nicht mehr so verbreitet. Gott sei Dank. Bei uns aber denken wir an andere Menschen, die ausgesetzt werden: Die ihre Wohnung verlieren, weil sie die Miete des neuen Hausbesitzers nicht zahlen können. Die nicht in eine Regelschule gehen können, weil Inklusion von Menschen mit Handikap für den Staat dann doch teuer ist. Die nicht im Verein mitmachen können, weil die Trompete viel Geld kostet. Übrigens auch bei uns in der Kirche: Wenn Menschen zweifeln. Wenn Menschen sich nicht mehr so binden lassen möchten. Dann sagen wir: Weihnachtschristen. Feiertagschristen. Die Worte haben wir Christen erfunden.

3. Mitleid

„Bei diesem Anblick sagte Jesus: Geht, zeigt euch den Priestern.“ So geht die Geschichte weiter. Bei diesem Anblick. Im Griechischen steckt in diesem Wort eine Haltung, die im Deutschen nicht so rüberkommt: Der Anblick ist ein Blick des Mitleids. Wer aber Mitleid hat, nimmt Anteil am Schmerz und Leid anderer Menschen. Anteil nehmen heißt, über bloßes Mitfühlen hinaus einen Anteil vom Leid übernehmen. Dem Schmerz des anderen bei sich einen Resonanzraum geben. Und dadurch – heilen. Also: Solidarisch mit Menschen sein, die obdachlos werden. Mit einem Kind teilen, dass sich die eigene Trompete nicht leisten kann. Dafür sorgen, dass Kinder mit Behinderung bei uns in der Gemeinde bei der Kommunionvorbereitung mitmachen können. Menschen, die in der Kirche am Rand stehen nicht mit Verachtung begegnen. Ihre Zweifel mittragen. Sie willkommen heißen. Immer wieder. Auch an Weihnachten. Zur Taufe. Bei der Hochzeit. Übrigens auch auf dem Friedhof.

Mit diesem Blick des Mitleids Jesu geschieht auf dem Weg die Heilung. Ob sich die Menschen noch den Priestern zeigen, welche Priester das sind – es ist für die Heilung unerheblich. Der mitleidige Blick Jesu hat gereicht.

4. Heilung

Von den Zehn kommt einer zurück, als er merkt er ist geheilt. Klingt lapidar, doch ist es existenziell: Heilung bedeutet wieder in den Spiegel schauen können. Füße und Hände benutzen können. Das eigene Gesicht wieder ertragen können.

Und Heilung heute: Nicht auf der Straße stehen, sondern eine Wohnung haben. Heilung heute: Im Musikverein Trompete spielen. Heilung heute: Mit allen Kindern zusammen in die Schule gehen. Der Geheilte, obwohl religiös unmusikalisch, wie wir heute sagen würden tut das, was eigentlich von religiösen Menschen erwartet wird: Er gibt Gott die Ehre. Das bedeutet: Er macht Gott Platz. Er wirft sich vor Jesus auf die Erde. Es ist der Samariter. Ausgerechnet. Der von der anderen Seite der Grenze, der Abseitige hat verstanden, dass der mitleidende Blick Jesu ihm die Lösung, die Erlösung gebracht hat. Er, der Abseitige wird selbst zum Heilsträger. Er wird selbst die Menschen, die Welt mit dem mitleidenden Blick Jesu anschauen – und verwandeln.

5. Reprise

Zwei Gedanken möchte ich also euch und Ihnen in die Woche mitgeben:

1. Jesu Blick ist mitleidend und damit echt. Solidarisch. Authentisch. Und damit heilsam. Versuchen auch wir einander so anzublicken: Mitleidend und echt. Solidarisch und authentisch. Heilsam.

2. Der Abseitige, der von der anderen Seite der Grenze, der Fremde, der Gottferne, ausgerechnet der wird zum Heilsträger. Ausgerechnet. Versuchen auch wir gerade sie zu achten und wertzuschätzen. Hören wir auf, „wir hier“ und „die da“ zu sagen. Werden wir Grenzgänger. Haben wir Sympathie für den, der abseitssteht. In der Welt. In meinem Leben. In unserer Kirche.

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