Wenn der verwundete Gott uns seine Wunden zeigt, können wir mit unseren Verwundungen leben, selbst mit der größten Wunde, dem Tod. Gekürzte und leicht veränderte Ansprache anlässlich der Trauerfeier von R.
Von Peter Otten
Wenn ein Mensch gestorben ist und Menschen sich zu einer Trauerfeier versammeln, dann dient diese Feier natürlich zum einen dem Andenken des Verstorbenen. Es ist vor allem aber auch, und das ist mir sehr ernst, eine Feier für die, die zurückbleiben. Sie ist für sie dann ein Einstieg in die Trauer. Sie bildet einen Rahmen, sie gibt eine Struktur dafür, gut in die Trauer einsteigen zu können.
An dieser Stelle der Feier geht es nun darum zu schauen, ob wir in diesem tiefen schwarzen Loch nicht doch an einem Punkt Funken der Hoffnung schlagen können. Das ist wahrscheinlich das Schwierigste, denn es erscheint zunächst als unmögliche Herausforderung. Und wer nicht acht gibt macht diesen Versuch zu einem vertröstenden Zynismus.
Ich wage ihn dennoch und nehme Sie mit in die Geschichte, die wir gerade gehört haben. Die zwölf Jünger Jesu sind in derselben Situation wie wir heute Morgen. Sie befinden sich nämlich auch bei einer Trauerfeier. Sie betrauern den, mit dem sie umher gezogen sind. Zwölf Macher. Sie haben an einer Erfolgsgeschichte teilgenommen und sind dafür ein Risiko eingegangen. Sie wollten die Welt gestalten und haben gelernt, wie man sie zu einem heilsamen Ort machen kann. Sie haben mitgeholfen, dass Menschen, die ihnen und Jesus begegnet sind Sinn, Veränderung, Glück erfahren haben. Fromm gesagt: Sie haben gesehen, wie Gott in der Welt wirkt. Und sie waren ein Teil davon. Mit einem hohen Einsatz: Teilweise haben sie ihre Familien vernachlässigt, waren unermüdlich unterwegs, haben sich der guten Sache verschrieben, mit Haut und Haaren. Sie waren die Macher.
Doch der, der das Zentrum in diesem System war, der CEO würde wir vielleicht heute sagen, der ist tot. Der ist nicht mehr da. Und die Macher stehen da: Ausgebremst, verblüfft, müde, ausgebrannt. Mit der Frage: Wie geht es weiter? Mit unserer Idee? War nicht alles umsonst? Sind wir hier und heute in diesem Raum nicht am Ende angekommen?
Da sagen elf der Zwölf: Wir haben den Herrn gesehen. Aber der Zwölfte zweifelt. Er war ja nicht dabei. Wie kann das sein? Wenn ich nicht seine Wunden sehe und seine Wunden anfassen kann, glaube ich nicht. Doch acht Tage später erscheint der Herr erneut. Und sagt: „Streck deinen Finger hierher aus und sieh meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite.“ Da kann Thomas sagen: Mein Herr und mein Gott.
Was ist also passiert? Einer der zwölf Macher sagt: Wenn ich nicht deine Wunden, deine Verletzungen sehen und anfassen kann, dann glaube ich nicht, dass es weiter geht. Und der, um den es geht, ist nicht irritiert, ist nicht vorwurfsvoll oder sauer, sondern er zeigt all seine Verwundungen, die er am Ende seines Lebens erlitten hat. Und dann passiert Erlösung. Dann kann es weiter gehen. Dann passiert Auferstehung. Mein Herr und mein Gott.
Wir sind selber in der Situation der Jünger. Hier in der Kirche sind heute viele Macherinnen und Macher. Frauen und Männer mit viel Verantwortung. Weltgestalterinnen und Weltverbesserer. Feuerwehrleute, Politikerinnen, Politiker, Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftler, Familienväter, Mütter, Söhne und Töchter, die ins Leben hineinwachsen. Auch und gerade der Verstorbene war ja so ein Macher.
Wie finden wir Macher eigentlich zum Frieden? Denn das sagt Jesus ja auch: Der Friede sei mit euch. Wie gehen wir eigentlich weiter, wenn wir am Ende sind? Angesichts des Todes, der uns ja auch an unsere eigene Endlichkeit schockierend vor Augen stellt? Wie verlieren wir nicht den Mut? Wie bleiben wir dran? Auf der Arbeit, in der Politik, in der Gewerkschaft, in der Familie?
Die Geschichte gibt zwei Möglichkeiten. Wir könnten erstens sagen: Wir haben den Herrn gesehen. Ich deute es heute mal so: Es wird schon weitergehen. Wir haben eine Plan. Da ist Licht im Tunnel. Krone zurechtrücken und aufstehen.
Es gibt aber auch die andere Möglichkeit, nämlich die des zweifelnden Thomas: Zeig mir deine Wunden, Gott. Es ist eine auch sprachlich sehr intim ausgedrückte Passage. Thomas und Jesus, der Verwundete kommen sich sehr nahe. Ich zeige dir meine Wunden. Meine Verletzungen. Ich kaschiere sie nicht. Ich unterdrücke sie nicht. Ich überschminke sie nicht. Das ist nicht nötig. Ich zeige sie her. Ich kann das tun, weil der Rahmen stimmt. Weil es in diesem stillen intimen Geschehen ein Vertrauen gibt.
Das Verrückte an dieser Geschichte ist ja, dass in dem Moment, wo Gott selbst seine Wunden herzeigt bei dem Anderen, der in diesem Moment zum Zwilling Gottes wird Erlösung beginnt. In meinen Wunden bist du geheilt. Wiederleben. Auferstehung.
Weil der verwundete Gott seine Wunden herzeigt, kann Thomas auch seine Wunden herzeigen. Und das kannst du jetzt auch tun. Deine Verzweiflung, deine Irrwege, deine inneren und äußeren Wunden. Dein Unglück mit dir selbst. Deine Selbstzweifel. Deine Trauer um eine vergangene Liebe. Du kannst sie nicht nur herzeigen: In deinen Wunden bin ich schon da, sagt Gott. Wunden herzeigen heißt ja auch, mit ihnen Frieden zu schließen. Sie anzunehmen. Nicht mehr gegen sie anzukämpfen zu müssen. Frieden zu schließen. Gott sagt also: ich mache dir Mut, deine Wunden anzunehmen. Wer zum Zwilling des verwundeten Gottes wird, kann seine Wunden herzeigen. Könnte darin nicht Erlösung bestehen?
Wenn wir Macher ein Klima hinbekommen, indem wir unsere eigenen Verwundungen herzeigen und anschauen lassen können – wäre das nicht Erlösung? Wäre das nicht Auferstehung? Wenn der verwundete Gott Thomas seine Wunden zeigt und damit sagt: Du kannst deine Wunden annehmen und damit allen Menschen, die heute Morgen in der Agneskirche sind sagt: Ihr könnt eure Verwundungen annehmen. Seid respektvoll! Aufmerksam! Mutet euch einander zu, so wie ihr seid. Es ist in Ordnung. Wäre das nicht die Erlösung? Wäre das nicht Auferstehung von den Toten schon in unserem Leben?
Und wenn das so ist: Dann darf R. und dann dürfen wir gemeinsam mit ihm darauf vertrauen, dass der verwundete Gott auch in R.`s Sterben ihm seine Verwundungen zeigt. R. wird zu Gottes Zwilling. Das wäre das ewige Leben. Gott kann in seinen eigenen Verwundungen dich und mich und R. anschauen. Und du, ich und R. können leben. Mit unseren Wunden. Selbst mit der größten Wunde, dem Tod. Hier und jetzt einst, wo und wie auch immer.
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