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Von Peter Otten
Als meine Mutter 50 wurde, schenkten wir ihr eine Fritteuse. Wir kauften sie wie alle Elektroartikel bei „Elektro Schmitter“ und ließen sie dort gleich mit einer schönen Schleife hübsch verpacken. Sie war ein runder Topf, wie ein kleiner Einkochkessel mit einem Stecker und einem Deckel. Sie hatte einen Schieberregler, mit dem man die Temperatur einstellen konnte. Der optimale Gargrad für verschiedene Lebensmittel war mit Hilfe kleiner Piktogramme aufgemalt: Ein Fisch benötigte eher eine mittlere Hitze, bei der Zubereitung von Pommes Frittes sollte man den Schieber bis zum Anschlag durchschieben.
Einen Fisch hat meine Mutter meiner Erinnerung nach in der Fritteuse niemals zubereitet. Es war ja auch ehrlich gesagt ein kalkuliertes Geschenk gewesen: Die Kinder wollten Pommes haben – statt langweiliger Salzkartoffeln zum sonntäglichen Rinder- oder Rollbraten, denen sie manchmal überdrüssig geworden waren. Wir hatten uns also gewissermaßen selber beschenkt. Das spürten wir auch untergründig, obwohl wir versuchten, der Mutter dieses Geschenk nach dem Auspacken besonders anzupreisen. Sie nahm unser berechnendes Vorgehen natürlich wahr, aber eine bewundernswerte Gabe von ihr war, über diese Berechnung gütig hinweg zu sehen. Nun gab es – hin und wieder – Pommes, tatsächlich. Und meine Mutter schien Frieden mit diesem seltsamen Geschenk zu schließen, als sie später begann, Fastnachtskrapfen in ihm zuzubereiten, weil sie nun anschließend nicht mehr mühsam die Herdplatten schrubben musste.
Später hatte ich immer wieder ein schlechtes Gewissen, als ich an diesen Geburtstag zurückdachte. Es gibt fast nichts Unmöglicheres, als zum Anlass eines Geburtstages nicht an den Jubilar zu denken, sondern an sich selbst. Ehen sind schon daran gescheitert, dass Eheleute nicht in der Lage waren, einander selbstlos zu beschenken, was ja bedeutet, von eigenen Interessen vollständig abzusehen. Selbstlosigkeit ist ja bekanntermaßen eine Grundtugend beim Schenken.
Als meine Mutter fünfzig wurde, war ich gerade mal zehn. Ich fand meine Mutter alt und schämte mich für meine Gedanken. Ich wollte nicht, dass ich meine Mutter alt finde. Aber sie war es in meinen Augen. Und ich wollte nicht, dass sie sich alt finden musste. Vielleicht war die Fritteuse daher auch ein Zeichen dieser Unsicherheit: Was schenkst du einer Mutter, die ja auch für dich sorgt und im Regelfall etwas zu essen macht? Vielleicht war eine Fritteuse ja so besehen nicht mal ein so doofes Geschenk. Frittieren war damals hip. Wer sein Essen frittierte, galt als modern und, ja, jung und aufgeschlossen. Vielleicht konnte eine Fritteuse meine Mutter jung halten.
In zwei Jahren werde ich selber fünfzig. Es deutet nichts darauf hin, dass ich eine Fritteuse geschenkt bekommen werde. (Dass ich Kochutensilien geschenkt bekomme ist jedoch nicht so unwahrscheinlich, denn ich koche wirklich gern, und meine Frau weiß, dass ich mich über Kartoffelpressen und Pfannen sehr freue). Was mich beschäftigt ist, dass ich dann selber in das Alter komme, wo ich meine Mutter alt fand. Und damit altmodisch und ein bisschen von gestern.
Wenn ich fünfzig werde, werde ich mich hoffentlich auch wieder auf einen Halbmarathon vorbereiten. Ich werde immer noch Jeans tragen, meine Geheimratsecken als Zeichen von Attraktivität deuten, Fahrrad fahren, Aktivurlaub machen, Popmusik hören. Tröstend werde ich mir sagen: Du bist anders alt als es deine Mutter war. Du bist irgendwie jung/alt.
Da ist ja auch was dran. Menschen werden heute jünger alt. Sie leben länger, sind fitter dank Sport und medizinischem Fortschritt. Wenn ich morgens am Rhein entlang laufe, spucken die Flusskreuzschiffe, die Arosa heißen ihre Passagiere ans Ufer, wo ihre Stadtführer schon warten. Es sind fast ausnahmslos Seniorinnen und Senioren, mit bequemen Romika-Schuhen, Sonnenbrillen, Popeline-Westen, Digitalkameras und kleinen Rucksäcken. Scharen von Menschen, die sich darauf freuen, die Altstadt zu erkunden und später im Dom ein buntes Foto vom Richter-Fenster machen zu können, wenn die Sonne ihren Horizont erreicht hat. Das ist bei aller Skurrilität irgendwie tröstlich. Alter und Freude gehen heute ganz gut zusammen. Das Alter wirkt vielleicht lästig, aber dank Augenlasern und künstlichen Hüften scheint es nicht mehr so bedrohlich.
Wenn ich diese Menschenscharen sehe, denke ich auch darüber nach, wie ich selbst eigentlich im Alter leben möchte. Gesund und fit natürlich, immer noch beweglich, keine Frage.
Aber es gibt ja auch die andere Realität des Altwerdens.
Vor ein paar Wochen hatte ich die erste Beerdigung, bei der ich auf dem Friedhof mit der Urne der Verstorbenen allein an einem schlammigen Urnenbohrloch stand. Zwar hatte das der Bestatter diskret angekündigt. Trotzdem war die Szenerie bedrückend. Ich stand allein am Grab eines Menschen, der offensichtlich vergessen worden war. Auch dreimonatige Nachforschungen der Stadtverwaltung hatten keine Angehörigen ermitteln können, obwohl es welche geben musste. Die Dame war allein und einsam in einem Altenheim verstorben. Ich dachte: Jeder Mensch hat 15 Minuten verdient. Daher habe ich der Verstorbenen eine Ansprache in den Wind gesprochen. Und doch klangen meine tröstend gemeinten Worte (Erlösung begänne mit der Erinnerung, und die Idee der Auferstehung begänne auch mit der bleibenden Erinnerung an einen Menschen, und dass Gott sich eines jeden Menschen erinnere – auch und gerade an einen Menschen, der augenscheinlich vergessen sei) an diesem Morgen ein bisschen schal.
Denn ist der Gedanke, dass ein Mensch im Alter einsam, allein und vergessen ist – und also auch ich, denn ich bin ja auch nur ein Mensch – nicht ein sehr bedrückender und zugleich sehr reeller Gedanke?
Gibt es etwas Schlimmeres als Alleinsein?
Darüber denkt auch der alttestamentarische Prophet Kohelet nach. Einen Text von ihm bekam ich vor ein paar Tagen in die Hand, als ich eine Hochzeitsansprache vorbereitete. „Es gibt Einzelne, die niemanden haben, weder ein Kind noch einen Bruder, noch eine Schwester. Deswegen hat all ihr Mühen kein Ziel“ heißt es da. Das klingt, als spähe Kohelet für einen Augenblick ins totale Nichts. „Für wen mühe ich mich ab?“ Ich habe schon alte Leute diese verzweifelte Frage sagen hören. Vor einigen Wochen sprang eine alte verwirrte Frau in einem der Heime hier im Viertel aus dem Fenster, kurz nachdem ihre Zimmernachbarin – offensichtlich ihr letzter Anker ins Leben – gestorben war.
Für wen sollte sie sich weiter abmühen?
Das Berührende am Kohelet-Text ist, dass er sehr bildhaft ist, fast wie ein Märchen. Kohelet sagt, dass Alleinsein schlimm ist. Und er sagt, es sei besser, wenn man zu zweit ist. Denn zu zweit könne man einander aufrichten, einander wärmen und dem widerstehen, was einen überwältigt. Das ist so einsichtig, dass es keinerlei Erklärung bedarf.
Ich habe dem Hochzeitspaar gewünscht, dass es immer so leben möge: Als eine Art Realsymbol dafür, wie jeder Mensch leben sollte. Wer aufgerichtet ist, kann selber aufrichten. Wer es warm hat kann selber wärmen. Und wer in der Überwältigung Hilfe bekommt, kann anderen in der Überwältigung helfen. Eine Ehe sei auch ein Bekenntnis zu dieser Lebenshaltung.
So möchte ich selber auch im Alter leben können. Ich wünsche es mir sehr. Ich wünsche es alten Menschen sehr. Ich bin traurig wegen denen, die das nicht erleben und darüber verzweifeln. Wie kriegen wir das hin, dass Menschen so leben können, wie Kohelet das vorschlägt? Ich habe dafür auch kein Patentrezept. Womöglich ist es schon mal ein Anfang, der Angst vor dem Alleinsein nicht auszuweichen. Wenn man in stillen Momenten ehrlich zu sich selbst ist, meldet sie sich auch dann schon, wenn man sich noch jung/alt fühlt.
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