Montag, 25. September 2017

Im Risikomodus

Foto: Peter Otten
Nach der Bundestagswahl müsste die katholische Kirche in den Risikomodus schalten. Sie könnte dazu beitragen, dass dringend benötigte Diskursräume entstehen. Schöne Idee. Aber das wird sie nicht tun.

Von Peter Otten

In der Krypta von St. Agnes in Köln befindet sich seit einigen Jahren eine Reliquie. Dabei handelt es sich um einen Brief, den der katholische Widerstandskämpfer Nikolaus Groß im Juli 1944 an seine Tochter Marianne schrieb. Die Geschichte dieses Briefes, auch die problematische Annexion des persönlichen Widerstands eines Menschen durch Teile der katholischen Kirche hat Norbert Bauer hier schon mal beschrieben.


Wenn Menschen in die düstere, an eine Gefängniszelle erinnernde Krypta hinabsteigen, um sie zu besichtigen, erzähle ich immer, dass diese ja auch statisch betrachtet einen Teil der Last der großen prachtvollen Kirche oben trägt. Ein Fundament von dem, was oben im Gottesdienst gefeiert wird bildet also auch das Andenken an das Leben und die Leistung von Nikolaus Groß. Daraus erwächst Respekt und Verantwortung für die, die dort oben feiern.

Worum geht es in dem Brief? Marianne war als siebzehnjährge mit ihrer gesamten Schule auf die Insel Usedom evakuiert worden. Dort erlebte sie, wie die NSDAP Einfluss auf die Schule zu nehmen versuchte. In einem Brief an den Vater schilderte sie, wie ihr und ihren Mitschülern verboten wurde, Andachtsbilder und Kreuze in den Zimmern zu haben. Daraufhin antwortete ihr der Vater. Er bereitete seine Tochter darauf vor, dass gewiss auch bald Gottesdienste und Gebete untersagt würden. Ein entscheidender Gedanke des Briefes ist dieser: "Ich glaube Dir gern, dass wir um Dich keine Sorge zu haben brauchen. Wir müssen auch von dir erwarten, dass Du Dich selbst behauptest." Später erzählte Marianne Reichartz, warum ihr gerade dieser Satz so viel bedeute: "Die Betonung liegt nicht auf behauptest, sondern auf selbst. Meinem Vater ging es nicht um Ratschläge und fertige Lösungen; es ging ihm darum, den Blick der Tochter zu schärfen, um sie selbst zu Entscheidungen fähig zu machen." Und diese Bedeutung hat der Brief, seit dem er der Öffentlichkeit bekannt ist nun nicht mehr nur für die Tochter, sondern für alle Menschen, die in die Krypta steigen. Für alle, die sich in dieser Kirche zu Gott bekennen: Der Brief "wirkt wie ein Transparent eines Menschen, der sein Selbst nie aufgegeben hat. Sein Geist lebt unter uns."

Nach dem Ausgang der Bundestagswahl ist klar, dass es nun mehr denn je Bekennerinnen und Bekenner für die Demokratie braucht - und zwar nicht nur in den Feullitons der Zeitungen, sondern dort, wo Menschen miteiander ihren Alltag teilen. Es geht nun darum, dass Demokratinnen und Demokraten sich selbst behaupten. Es geht darum, den Blick zu schärfen, zu argumentieren, Meinungen zu bilden, sich überzeugen zu lassen und selbst zu überzeugen, Entscheidungen zu treffen und zu verteidigen.

Elektrisierend ist, dass das Zeugnis von Marianne Reichartz zeigt, wie sehr sie erst der Glaube - wenigstens so, wie sie ihn beim Vater erlebt hat -  zur eigenen Selbstbehauptung befähigt hat: "So erlebte ich die Spannung zwischen einerseits: Du musst dich in manchen Dingen durchkämpfen, um den Widersachern die Stirn zu bieten, das erwarten wir von dir. Und andererseits: Wir sind immer für dich da. Diese Aussagen sind Ausdruck der eigenen Haltung meines Vaters: Vertrauen, Glauben und sein Selbst, sein Wesen, nicht aufzugeben." Die Tochter hat also - im Gefäß des Glaubens, im Zeugnis des Vaters - einen vertrauensvollen Raum erfahren, der sie zu Selbstbewusstsein, zur Selbstbehauptung geführt hat.

Eigentlich könnte nun die Kirche ein geeigneter Ort für exakt dieses sein. Sie hat die Räume, mitten in den Metropolen, sie hat immer noch eine wenigstens in Teilen gesellschaftliche Anerkennung, sie hat eine ästhetische Kompetenz, sie verfügt über ein dichtes soziales Netzwerk und viel pädagogisches Rüstzeug. Überdies verfügt sie mit den katholischen Verbänden über eine Tradition, die das Engagement und die Selbstorganisation des Laienkatholizismus als eine wichtige Säule eingeübt hat. Jetzt könnte man einwenden, dass sich viele katholische Verbände nicht gerade im allerbesten Zustand befinden. Geschenkt. Das gilt sicherlich nicht nur für die Erwachsenenverbände. Und doch gibt es gerade unter dem Dach des BDKJ mit der KjG, den Pfadfindern und anderen Jugendverbänden immer noch bemerkenswerte Experimentierräume, in denen Selbstbehauptung in selbstorganisiserten Gruppen junger Menschen mit Erfolg erprobt wird. Auch da ist - logisch - nicht alles Gold was glänzt. Auch da ist jenseits aller oft ermüdenden Selbstbespiegelung noch Luft nach oben. Trotzden zeigen Aktionen wie "Zukunftszeit" das unglaubliche Potential, die Energie sowie die politische Kultur innerhalb der Jugendverbände. Und die Bundestagswahl zeigt, dass jetzt die Chance der Verbände sein könnte. Die Verbände müssten selbst die Chance ergreifen und ihr Potential der Selbstbehauptung als Alleinstellungsmerkmal in den Mittelpunkt stellen. Einerseits.

Wenn Bischöfe es mit der Verteidigung der Demokratie andererseits ernst meinten, stände es ihnen gut an, in diese (und sicher auch neu zu findende) Labore der Demokratie zu investieren - oder eben neu zu suchen. Dazu müsste aber die Bereitschaft erkennbar sein, dass echte Diskurse tatsächlich gewünscht sind, ja, dass sie gewollt und gefördert werden, selbst wenn sie unangenehm, zeitaufwändig und schwierig sind. Und dazu gehört - wie es Nikolaus Groß seiner Tochter eingeräumt hat - vor allem ein gehöriger Vorschuss von Vertrauen. Das aber ist leider weit und breit nicht in Sicht.

Gerade heute veröffentichte die SZ eine Vorabmeldung über einen Leitartikel, der morgen in der Herder-Korrespondenz erscheinen wird. Darin scheint, nach allem was bekannt ist der Kölner Kardinal Rainer Maria Woelki wieder eher unverhandelbare Grenzen in der ökumenischen Zusammenrabeit beider Großkirchen in Deutschland hochzuziehen, also das zu betonen, worüber erst gar nicht zu sprechen ist. Auch bei der Ermöglichung eines gemeinsamen Religionsunterrichts von evangelischen und katholischen Schülern in NRW ab dem kommenden Schuljahr beteiligt sich das Erzbistum Köln nicht.

Aber eine Institution, die sich nicht auszusetzen traut und dadurch keine (Diskurs-)Räume eröffnet - wofür soll sie gut sein? Eine Kirche, die nur noch verteidigen, nicht aber mehr streiten will - was soll sie noch? Einen Tag nach dem Ergebnis der Bundestagswahl, nach der doch so notwendig wie nie deutlich wurde, dass es nun echte analoge, vertrauensvolle Begegnungsräume geben müsste ist dies ein zwar erwartbares, dennoch enttäuschendes Signal. Die katholische Kirche müsste jetzt alles auf Risiko setzen. Was hätte sie zu verlieren? Selbstbehauptung ist eben nur im Modus des Risikos möglich - oder eben nicht.

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