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Von Peter Otten
Dieser Johannes macht so viele Worte! Denke ich, als ich den Text wieder und wieder lese. Als möchte er, weil er aus der Pespektive „90 Jahre danach“ schreibt, alles „auf Linie“ bringen. Damit alles bis in den Höhepunkt hinein stimmig erklärt ist: Es ist der Gottessohn, der da stirbt. Deswegen weisen alle Schriftworte auf diesen Punkt hin. Deswegen die vielen Diskussionen und Gespräche. Dieser Spannungsaufbau, diese fast schwüle körperlich anstrengend verspürte Atmosphäre dieses endlos erscheinenden Dramas.
Bis endlich der Höhepunkt der Geschichte erreicht ist, in dem sich alle Spannung entlädt, dass man es fast körperlich spürt, ja fast erleichtert ist: „Es ist vollbracht! Und er neigte das Haupt und gab seinen Geist auf.“ Man kann fast hören, wie der Atem ein letztes Mal entweicht. Es fast spüren.
Ich denke an einen Menschen, den ich sterben sah. Es war mein Vater. Wie er dalag, in seinem Bett, dass wir ihm unten aufgestellt hatten. Es stand in der Zimmerecke, wo alle Betten gestanden hatten, seit es diese kleine Kammer in diesem Haus gab. Er lag, den Kopf auf dem Kissen, die Brille auf dem Nachttisch neben einem Wasserglas verwahrt, vermutlich ein altes Senfglas. Der letzte Hauch, der letzte Atemzug ist ja keine literarische Figur. Es gibt in wirklich. Und auch mein Vater tat ihn. Die Lungen entluden sich säuselnd. Und sogen sich nicht mehr voll. Dann war es ganz still.
Ich erinnere mich, wie ich zum Fenster ging, hinaus in den Garten sah: in die frühlingsgeschwängerte Luft. Ich blickte auf die Stangenbohnen im Garten, wie sich sie frisch emporwanden. Ich weiß noch, dass ich diesen Moment wie eine Leerstelle empfand. Als hätte nicht nur der Vater, sondern ich selbst ein Stück von meinem Geist aufgegeben. Als sei er mir entwendet worden. Gerade weil sich der Gedanke im Kopf einen Platz suchte: dass da ein Mensch – und nicht nur irgendeiner, sondern der Vater – nun nicht mehr lebt, gab es diese Leerstelle. Sie schmerzte nicht, die Stelle war einfach nur leer. Bis das, was passiert war ins Begreifen und in den Schmerz kam. Doch das kam später.
Als ich heute daran denke fällt mir ein Lied von Bob Dylan ein. Es heißt "Obviously Five Believers", übersetzt: "Offensichtlich fünf Gläubige". Das Lied, ein klassischer Blues, wird von diesen Zeilen eingerahmt:
„Früh am Morgen
Früh am Morgen
Bitte ich dich
Bitte ich dich
Komm doch nach Haus
Ja ich könnte ohne dich klarkommen
Wenn ich mich nicht so einsam fühlte.“
Womöglich war es das, was ich spürte, als mein Vater zu letzten Mal ausatmete: Diese Leerstelle war kalte Einsamkeit. Ein tiefes Gefühl von Nichts. Und die bange Ahnung, dass da auch nichts mehr kommen könnte. Trotz des Blicks in den hellgrünen Gartenfrühling. Es schien plötzlich alles ohne Echo, jedes Empfingen, alles nur noch pappige Kulisse.
„…und gab seinen Geist auf.“ Das ist also die Leerstelle der heutigen Geschichte. Der Augenblick in der Passion, nach dem nichts mehr kommt. Solche Augenblicke melden sich auch in meiner Geschichte, in deiner Geschichte. Es ist schwer, diesen Augenblick, nach dem nichts mehr kommt auszuhalten. Es war für mich ganz existenziell dieser Moment, an dem die Finger meines Vaters für immer weiß wurden.
Für jeden Menschen ist dieser Augenblick, nach dem nichts mehr kommt anders. Aber jeder hat ihn wohl schon mal erlebt: Vielleicht ist es das Taumeln in der Minute, in der eine Liebe zu Ende geht. Der Augenblick vor dem Einschlafen, wo ein vom Leben Ermüdeter wünscht, nicht mehr aufzuwachen. Wo ihm klar wird: er wird es doch tun. Der Blick in die leeren Augen eines geliebten und nun verwirrten Menschen. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals diesem Augenblick, nach dem für mich nichts mehr kam etwas Gutes abgewonnen habe. Sicher nicht. Ich starrte in den Garten, verlor mich im Grün der jungen Kartoffelpflanzen und war für einen Moment der einsamste Mensch der Welt. Das weiß ich noch. Vielleicht war das aber das Beste: der einsamste Mensch der Welt sein zu dürfen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Niemand ist gerne einsam. Einsamkeit ist Realität. Und Menschen sind oft so schnell im Wegerklären. „Der Vater war sterbenskrank. Gut, dass er jetzt erlöst ist. Da, wo er jetzt ist geht es ihm besser.“ Ich erinnere mich gut, dass uns damals Menschen dies in die Trauerkarten schrieben. Das war gut und tröstete. Auch der Karfreitag ist allzu schnell wegerklärt: Heißt es nicht: "Das Leben siegt"? Was aber, wenn es das nicht tut? "Im Kreuz ist Heil, im Kreuz ist Leben" - das singt sich leicht. Heute ist da aber erst mal das Kreuz mit dem Augenblick vom letzten Atemzug dessen, der dort verstirbt.
Eine andere Strophe in dem Stück von Bob Dylan lautet:
"Deine Mutter arbeitet
Deine Mutter stöhnt
Sie weint, weißt du
Sie weint, weißt du
Ich würde dir ja sagen, was sie will
Ich weiß nur nicht wie"
Es gibt Menschen, die bei denen werden Augenblicke, nach denen nichts mehr kommt, zu Tagen, Wochen, Jahren, zum schwarzen Grundgerüst ihres Lebens. „Ich würde dir ja sagen, was sie will / Ich weiß nur nicht wie“. Wie wäre es, wenn es einen Tag gäbe, an dem Menschen diese Augenblicke, an denen nichts mehr kommt miteinander und füreinander aushalten? Es gibt ihn. Es ist der sperrige Karfreitag. Er würdigt die Leerstellen des Lebens, auch die, für die es keinen Trost, keine Erklärung gibt. Und nimmt sich dafür einen ganzen Tag Zeit. Das ist gut.
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