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Von Peter Otten
In meiner Jugend im Bergischen Land war der Protestantismus für mich bestenfalls eine Randerscheinung. Zwischen Bergisch Gladbach und Wipperfürth befindet sich eine katholische Landzunge, in der ich groß geworden bin. Der Katholizismus konnte hier auf dem Land noch weitgehend eine große Pracht entfalten: Frühmesse am Sonntag um halb acht, nachmittags Andacht, große Fronleichnamsprozessionen durch die Felder der Umgebung mit geschmückten Hausaltären, „Freudenträne leise fließ“ zur Erstkommunion mit einem Sopran, der sich krächzend in die Höhe wand, hunderte Menschen bei der Gräbersegnung am Allerheiligenfest. In der Rückschau wird natürlich klar, dass diese Pracht auch bereits vor 35 Jahren erste feine oder größere Risse hatte. Protestanten oder „Evangelischen“ begegnete ich damals jedenfalls zunächst eher beiläufig.
Zum Beispiel, als ich mit meiner Gitarre unter dem Arm zu meinem Gitarrenlehrer schlurfte, der in einem Klassenraum der Hauptschule unterrichtete. Der Gitarrenlehrer hieß Otfried, hatte Haare wie der Bruder von Diana Ross, fuhr einen verbeulten Kadett B-Kombi, war ein Gott an seinem Instrument und drehte sich am Anfang der Stunde aus einer blauen Tüte immer erst eine Zigarette, die er zwischen seine gelben Finger klemmte und über dem Papierkorb abaschte, bevor er die verbeulte Kippe an den Rand des Lehrerpultes zum Weiterglimmen legte. Wenn Otfried kam, war der kleine stämmige Mann im schwarzen Anzug gerade gegangen, nachdem er seine Brille zurecht geschoben und eine Horde Halbwüchsiger an mir vorbei auf den Flur gestürmt war. Unsere Gitarren lösten quasi die Bibeln ab, die manche von ihnen schnell in die Taschen geschoben hatten. Nach dem Konfirmandenunterricht kamen die Beatles auf den Tisch. Und der kleine Mann, der mir durch sein Kinnbärtchen immer still zunickte, das war der evangelische Pfarrer.
Damals hatte ich keine Ahnung, was Konfirmandenunterreicht bedeutete. Und in meiner katholischen Welt konnte mir da, leider, auch keiner weiterhelfen. Der Pfarrer und sein Häufchen blieben nicht nur mir fremd. Das mochte daran liegen, dass die evangelische Gemeinde – ja, man sagte, es sollte eine geben - in meiner Heimat lange Zeit keine eigene Kirche und folglich auch keine eigenen Räume zum Treffen hatten. Viel später erfuhr ich, dass der katholische Pfarrer unserer Nachbargemeinde den Protestanten Obdach für Gottesdienste in seiner Kirche gewährte. Sie feierten immer im Seitenschiff der Kirche. Manchmal, wenn wir vor der Sportschau am Samstag noch rasch zum Beichten fuhren (traditionell beichtete die Familie nicht in der Heimatpfarrei, was mir ganz recht war, man wusste ja nie…) sahen wir, wie das Altarkreuz um 90 Grad in die Sichtachse des Seitenschiffs gedreht wurde – ebenso wie das Altarmikrofon. Vorbereitung für den evangelischen Sonntagsgottesdienst am Samstag. Ich bewunderte den katholischen Pfarrer für das, was er tat, so, wie ein Kind, das wenig Ahnung hat außer der, dass das, was da geschah außergewöhnlich zu sein schien einen Erwachsenen halt bewundert. Ich vermute heute, er hat das auf seine Kappe genommen. Eine christliche Herde ohne Obdach erschien ihm vermutlich unwürdig.
Natürlich gäbe es noch mehr zu erinnern. Viele Vorurteile aus Unwissenheit, die einsickerten. Von Spaltung und Ungehorsam wurde geraunt. Ich erinnere mich daran, wie ich zum ersten Mal einen Pfarrer in seiner Amtskleidung sah – im schwarzen Talar mit Bäffchen, wie er neben der goldgewirkten Pracht des Kollegen irgendwie verblasste, wie es mir schien. Und später, im katholischen Gymnasium, wo der protestantische Pfarrer im Rollkragenpullover erschien, manchmal durch seine Frau vertreten wurde und wo der evangelische Religionsunterricht zwar einerseits als trocken verschrien war, andererseits aber auch im Vergleich zur katholischen Version die intellektuellere Ausgabe war.
Die Begebenheit, dass der katholische Pfarrer der kleinen evangelischen Gemeinde Obdach gewährt hatte, erscheint mir im Nachgang aber besonders zu sein. Es gab da Christen, die offensichtlich protestierten. Wogegen – das konnte mir keiner erklären. Jedenfalls schienen sie nicht mit allem, was sie vorfanden einverstanden zu sein. Das erschien mir insofern bemerkenswert, als dass Protest in meiner katholischen Welt nicht vorkam. Er erschien einfach nicht notwendig zu sein. Die Welt erschien meinen Eltern geordnet und gab so, wie sie war Halt und Struktur. Kriege und Konflikte, Ungerechtigkeit, wirtschaftliche und soziale Not spielten keine Rolle. „Jesus Christus ist gekommen, um zu suchen und zu retten, was verloren ist“, das war die Konklusio jeder zweiten Sonntagspredigt. Und worin die Rettung bestand, war auch klar: „Fest soll mein Taufbund immer stehn, ich will die Kirche hören! Sie soll mich allzeit gläubig sehn und folgsam ihren Lehren! Dank sei dem Herrn, der mich aus Gnad in seine Kirch berufen hat, nie will ich von ihr weichen!“
Dass das nicht reicht, habe ich vielleicht erst im Studium verstanden, Gott sei Dank, vielleicht spät, aber nicht zu spät. Vielleicht aber auch erst, als ich auf meiner ersten Stelle als Pastoralassistent einer frierenden Familie einen Kohleofen auf die zweite Etage geschleppt und angeschlossen habe. Es war übrigens nicht irgendeine Familie. Die Mutter war unter anderem Kommunionkatechetin und kochte im Zeltlager. Die Kinder waren tragende Säulen in der KjG.
Das aber veränderte meinen Blick auf Kirche und Gemeinde radikal: Die Kirche war also kein elitärer Club. Niemals dürfe es in ihrem Tun um reinen Selbsterhalt gehen. Die von der Kirche, das waren die, die sich für andere, ja, für anderes interessierten.„Die Gemeinde, die für andere da ist, ist eine Gemeinde, die offen ist, zuzuhören. Wer zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist und zu wenig von sich selbst weiß, kann nicht gut zuhören“, schreibt Christof Ziemer, ein evangelischer Theologe. Der Protest kam in mein Leben, in meine Arbeit maßgeblich auch durch den Protestantismus. Nicht nur, aber auch. „Der Auftrag der Kirche ist nicht die Vermittlung sogenannter christlicher Werte“, schreibt Ziemer weiter. „Sie hat vielmehr allen Menschen zu bezeugen, was ein Leben mit Christus heute heißt.“ Allen Menschen. Das war für mein damaliges Empfinden revolutionär. Und was bedeutet das? Noch einmal Ziemer: „Die Kirche ist auch in Zukunft die Kirche, wenn sie für andere da ist. Die anderen sind immer noch die Alten und Schwachen, neu die Fremden, die Arbeitslosen und die, die mit ihrer Vergangenheit nicht zurechtkommen.“
„Warum liebe ich den Protestantismus?“ fragt Jürgen Moltmann. „Warum bin ich gern ein Protestant? Ich glaube, es ist wegen der Freiheit; der Freiheit vor Gott im Glauben, der Freiheit der Religion vor dem Staat und der Freiheit des Gewissens vor der Kirche.“ Ich möchte dazu von Herzen als katholischer Christ ja sagen. Ein Glaube, der nicht in die Freiheit führt, führt zu nichts. Es ist ja eine wesentliche protestantische Überzeugung, die Moltmann so formuliert: „Wer allein aus Gnade gerecht worden ist, der kann angstfrei leben. Er braucht sich nicht mehr um sein Seelenheil zu sorgen. Alle Sorge, die er hat, richtet sich auf seinen Nächsten. Der Glaube allein macht selig, aber der Glaube ist nie allein, sondern in der Liebe tätig, solange der glaubende Mensch lebt.“
Für diesen Gedanken bin ich dem Protestantismus dankbar. Und noch für einen anderen, der aus dem Gedanken der Freiheit folgt. Ziemer formuliert es so: „Pluralität ist kein Unglücksfall für die Gemeinde, sondern der durch die Taufe konstituierte Normalfall. In der Taufe werden die in der Welt Ungleichen und Verschiedenen zu gleichberechtigten Gliedern des Gottesvolkes berufen.“ Die Gedanken von Pluralität und Autonomie sind also auch vor allem auch durch den Protestantismus in der Kirche präsent – auch in der katholischen. Worin läge also eine Chance der katholischen Kirche, wenn im nun begonnenen Jahr an 500 Jahre Reformationsgeschichte erinnert wird? Der Historiker und Luther-Biograf Heinz Schilling formulierte es im Radio vor einigen Tagen so: „Ist es nicht spannend zu fragen: Wird die römische Kirche in der Auseinandersetzung mit dem reformatorischen Geschehen, dass sie zwangsläufig im Jahr 2017 aufnehmen muss Freude an der Differenzierung gewinnen? Die Differenzierung und auch die Säkularisierung nicht mehr nur negativ verstehen, sondern sie positiv aufnehmen und einbauen in ihr Selbstverständnis als ein Reichtum des Christentums?“ Es wäre sehr zu wünschen. In diesem Sinne war vielleicht jedenfalls der katholische Pfarrer, der damals in der Nachbarschaft meiner Heimat der evangelischen Herde Obdach gewährte ein Protestant. Wer weiß das schon.
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