Mittwoch, 7. Dezember 2016

Forever young, am Ende ein Anfang


Screenshot: Peter Otten
Am Ende des Jahres wird ein Kind geboren. Am Ende also die Erfahrung vom Anfang.
 

Von Peter Otten
 

Ich bin kein Dynologe. Ich bin im Dylan-Kosmos nicht so bewandert, dass ich Ursprung und Umstand jedes Dylan-Songs kennen würde. Vieles aber spricht dafür, dass Dylan dieses Lied, das hier mit seinem strohigen Sound irgendwie nach Pferd und Erde klingt anlässlich der Geburt eines seiner Kinder geschrieben hat. Oder irgendeines anderen Kindes. Es spielt auch keine Rolle. Musikalisch und textlich erinnert Forever Young jedenfalls an die Tradition von Segens- oder Kinderliedern, in dem Dylan viele Wünsche versammelt, damit das Leben eines heranwachsenden Kindes gelinge. Und neben dem Wunsch nach immerwährendem Segen Gottes, der direkt am Anfang steht sind es handfeste konkrete Wünsche: Immer für andere da sein – und andere für dich (wer kann das schon?). Mögest du groß werden, um gerecht zu sein (Gerechtigkeit - ein großes Wort). Die Wahrheit zu kennen und treu zu sein. Mutig, stark und aufrecht. Hände und Füße beschäftigt und flink. Und wie in einer Litanei formuliert Dylan seinen Herzenswunsch: Für immer jung zu bleiben.

 

Für immer jung. Ich weiß natürlich: das ist unmöglich. Die Fährnisse des Älterwerdens machen auch bei mir nicht halt. Alterslosigkeit gibt es nicht. Und doch oder vielleicht gerade deswegen erinnere ich mich, je älter ich werde immer öfter daran, als ich selbst ein Kind war. Ich bin auf dem Land groß geworden, in einem kleinen windschiefen Haus, zwischen Hühnern und Kaninchen, in einem Gemüsegarten mit Rosenkohl und Stangenbohnen, unter einem Birnenbaum – und manche Bilder der Kindheit scheinen nie zu verblassen:

Als ich im Sommer mit der Sense für die Tiere das Gras schnitt, und später mit meiner Mutter das trockene Heu in Futtersäcke füllte. Der Duft der "frischen Mahd", das Kratzen der getrockneten Halme an den Armen.

Als ich mit meinem Bruder einen Tunnel durch einen kleinen Erdwall grub und mich nicht traute hindurchzukriechen, weil ich Angst hatte, der Tunnel werde nicht halten. Der schwere Lehm, der Geruch der feuchten Erde und die wassertropfenden Fichten.

Als ich mit meiner Mutter zum Wäscheaufhängen ging, noch vor der Kindergartenzeit. Wie wir mit einem Lappen die Wäscheleine trockenrieben, bevor wir die Wäschestücke anklemmten, ich an einem Stück Leine, das so niedrig war, dass ich Knirps sie schon erreichen konnte.

Die Kindheit ist bei mir mit solchen Szenen verbunden: Geborgenheit und Schutz, Rhythmus und Geheimnis, Schutz und Freiheit. Es ist eigentümlich: vielleicht wird die Erinnerung an das, was am Anfang war mit der Zeit immer wichtiger, wenn die gelebten Verästelungen bereits einen großen Lebensteppich hinterlassen haben. Wenn sich neben die Geborgenheit auch Erfahrungen von Einsamkeit gesellen, neben die Schutzbedürftigkeit auch die Verzweiflung, neben Rhythmus auch Pause und Stillstand, neben der Sehnsucht nach Freiheit auch das Gefühl, gebunden zu sein. Neben Mut auch das Zurückschrecken, neben die Gerechtigkeit auch das Selbstinteresse und neben der kindlichen Schnelligkeit der Füße und Hände auch Erfahrungen großer Müdigkeit.

Ich kann nicht in die Kindheit zurückkehren – außer in der Erinnerung. An Weihnachten besonders. Das aber kann sehr wertvoll sein. Die Erinnerung an die Kindheit ist wie die Erinnerung an den Garten Eden, an dem – wie wir es letzte Woche bei Dylans Song „Ain´ talking“ gehört haben – der Aufbruch eines jeden Lebens beginnt. Der Wunsch „für immer jung“ zu sein bedeutet wohl nicht, für immer im Paradies der Kindheit zu bleiben. Abgesehen davon, dass es auch viele Kindheiten gibt, die nicht das Paradies sind, sondern die Hölle. Und dass es viele Menschen gibt, die Zeit ihres Lebens aus ihrer Kindheit fliehen, aus guten Gründen. Dem Anfang wohnt das Ende bereits inne.

Ich habe mich oft gefragt, warum an den Anfang der Evangelien Kindheitsgeschichten gestellt worden sind. Historisch belegt ist davon so gut wie nichts. Nicht der Stall, nicht die Krippe, nicht die Magier mit ihren Geschenken. Dennoch schien es den ersten Christinnen und Christen wichtig zu sein, von einem Anfang zu erzählen. Von der Kindheit desjenigen, von dem sie glauben, dass er die Welt erlöst hat. Und obwohl die Kindheitsgeschichte Jesu als eine höchst prekäre erzählt wird, in der von Gewalt und Kindermord, von Flucht und Angst berichtet wird – hat sich um dieses Fest eine Kultur entwickelt, wie wir sie von keinem anderen Fest her kennen. Lichter, Gerüche, Rezepte, Licht und Dunkelheit, Aufmerksamkeiten und Geschenke, Vorfreude und Begegnungen. Vielleicht sind Advent und Weihnachten deswegen so wichtig, weil ausgerechnet am Ende eines jeden Jahres, nachdem die Natur abgestorben ist und Nässe, Dunkelheit und Kälte die Tage prägen paradoxerweise gerade dann Menschen an den Anfang von allem erinnert werden. An den Beginn der Schöpfung, an die Geburt eines Kindes. Und damit auch an den eigenen Beginn, als ich mir jedenfalls auf der Wiese hinter meinem Elternhaus nichts sehnlicher wünschte als dass dieser Augenblick nicht zu Ende gehen soll. Forever young. Für immer jung. Glückliche Tage. Glückliches Kind.

Eine Schlüsselstelle in Dylans Lied scheint mir die Zeile zu sein, in der es heißt:

"Mögest du eine Leiter zu den Sternen bauen 

Und jede Sprosse erklimmen."

Die Stelle erinnert wohl nicht zufällig an Genesis 28, 11ff., in der von einem Traum Jakobs erzählt wird. Ich bringe dich zurück in dieses Land, das ist Gottes Versprechen an den träumenden Jakob. Das ist auch meine Sehnsucht in meinen (weihnachtlichen) Träumen. Davon erzählt auch das Geheimnis von Weihnachten: Am Ende nicht Nichts, am Ende ein Anfang. Geburt eines Kindes. Forever. Young.


Leicht veränderte Version. Vorgetragen am 6.12.2016 in St. Gertrud, Köln. "Forever Young" erschien erstmals auf dem Album "Planet Waves" im Jahr 1974.

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