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Von Peter Otten
In diesen Tagen hören Christinnen und Christen aller Konfessionen in den Gottesdiensten die Geschichte vom paradisischen Idyll. Wo das Kind mit der Schlange spielt und der Wolf beim Lamm Asyl bekommt. Dieses Stück aus dem Buch Jesaja gründet auf einer großen Frustration. Die Israeliten lebten in ihrem Gebiet damals ziemlich gefährlich. Mächtige Reiche um Israel herum, allen voran die Assyrer mit ihrem hoch aufgerüsteten Heer bedrohten das Land, mordeten und plünderten. Dabei hatten die Israeliten doch große Erwartungen in ihr Königtum gesetzt. Mit König David hatte die Hoffnung begonnen, dass ein gerechter und kluger König an der Spitze ihre Heimat schützen und stärken würde. Aber die Hoffnung hatte getrogen. Die Könige verhielten sich nicht königlich. Sie handelten nicht nach Gottes Willen, sondern nach ihrem eigenen Vorteil. Also, so geht das Bild, das Jesaja zeichnet, soll das Königtum noch einmal von vorn beginnen, von Grund auf, von Anfang an. Daher das radikale Bild von dem abgeschnittenen Baumstumpf, das Jesaja benutzt. Das korrupte Königtum soll abgesägt werden, mit ihm muss Schluss sein. Und dann wird etwas ganz Neues wachsen, ein idealer neue König, der Gott und den Menschen verbunden ist. Er soll Garant für die Unverdorbenheit einer politischen und geschöpflichen Neuordnung sein. Alles, was man in Israel bislang kannte, wird nicht mehr gelten. Alles wird umgekrempelt. Denn der Geisthauch Gottes wird in dieser Person wirken, weiß der Prophet. So wird der neue König weise und einsichtig sein, auf den Rat von anderen hören, eine innere Stärke haben, die Zeichen der Zeit erkennen und Ehrfurcht vor Gott haben. Im Grunde steckt in diesem Bild eine moderne Leitungskultur. Die Person wird in der Lage sein, fundierte Urteile zu bilden, in Entscheidungen die Perspektive der Anderen, der Armen einnehmen können und das Land nicht mit Gewalt, sondern mit der Kraft von Argumenten regieren.
Und mit demjenigen, der so handelt, bricht das Friedensreich an, so darf man den Propheten Jesaja verstehen. „Dann wird der Wolf beim Lamm als Flüchtling unterkommen“, heißt es. Es gibt keine Jäger mehr und keine Gejagten. Keine Aggressoren und keine Ausgeplünderten. Die alten Stereotypen, der Öde Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt – alles weg. Für immer. Doch Halt: Wer soll das um Himmels Willen hinkriegen? Sind das nicht Erwartungen, die jeden heillos überfordern? Auch die korrekteste Leitungskultur, die größte Selbstdisziplin und der maximal mögliche Altruismus ist doch kein Direktflug ins Paradies.
Vor ein paar Tagen ist Nelson Mandela gestorben. Sehr ausführlich haben die Medien an seine Lebensleistung erinnert. In einer der vielen Dokumentationen im Fernsehen berührte eine Episode besonders: als er diejenigen, die dafür sorgten, dass er 27 Jahre im Gefängnis verbringen musste, zum Essen bat. Auf die Frage, wie er ausgerechnet dazu gekommen sei, antwortete Mandela: „Wir mussten den weißen Südafrikanern zeigen, dass sie keine Angst vor uns haben mussten. Wir mussten ihnen ihre Angst nehmen.“ Ein erstaunlicher geradezu übermenschlicher Gedanke: Der ehemals Unterdrückte hat Emphatie für den Aggressor und entlarvt dessen Angst als Quelle für seine Aggression. Und damit ist das biblische Bild auf eine sehr berührende Art und Weise Realität geworden. Das erwartete Schema von Gewalt und Gegengewalt ist unterbrochen, abgesägt. Ein zartes frisches Pflänzchen wächst aus dem Schnitt heraus. Der alte Aggressor Wolf hat beim Lamm Asyl gefunden, tatsächlich. Diese Logik mag übermenschlich sein, unverständlich, nicht zu erwarten. Unmöglich ist sie aber nicht – das zeigt das Lebenszeugnis Mandelas eindrucksvoll. Womit wir wieder bei Jesajas These wären: es ist für den möglich, auf dem der Geisthauch Gottes ruht. Diese großartige Visionsgeschichte vom paradiesischen Idyll hören Christinnen und Christen im Advent oder zu Weihnachten. Denn: Weihnachten ist ein Friedensfest. Das geht allzu leicht, vielleicht gar allzu leicht über die Lippen. Aber, in der Tat, jedes Jahr hören wir aufs Neue, wie die Engel auf den Feldern sagen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen, die er liebt.“ So einfach ist die Weihnachtsbotschaft tatsächlich. Der Friede ist bei dem, den Gott liebt. Und wieder sind wir bei dem großartigen Bild von Jesaja, der übermenschlichen Lebensleistung von Nelson Mandela: denn einen Menschen lieben heißt, dem anderen zu zeigen: Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Und daher brauchst du keine Gewalt anzuwenden. Das ist die Friedensbotschaft von Weihnachten. Keine Angst mehr haben zu müssen.
Und wie wertvoll diese Friedensbotschaft für eine große Zahl von Kulturen auf der Welt ist! Fast nirgends wird sie ignoriert. Fast überall sorgt sie für Aufmerksamkeit und überall ist es dieselbe Botschaft – gerade weil sie sich in verschiedene kulturelle Bräuche kleidet. Mal beschenken sich die Menschen am 6. Dezember, mal am Heiligen Abend, in England am Morgen des ersten Weihnachtstages, woanders am Silvestertag und vor allem in Ländern mit orthodoxer Prägung am 6. Januar. In Deutschland schreiben die Kinder einen Wunschzettel ans Christkind, in Spanien sagen sie ihre Wünsche den heiligen drei Königen, in den angelsächsischen Ländern bringt der Weihnachtsmann die Geschenke und in Russland kommt Väterchen Frost mit seiner Enkelin vorbei. Du brauchst keine Angst zu haben! Nicht vor dem fremden unbekannten Menschen. Nicht einmal vor dem ungewöhnlichen Brauchtum, der fremden Sitte. Nicht einmal vor dem Weihnachtsmann. Weihnachten ist eben nicht das Fest, wo alles weitergeht wie bisher: wo der Wolf das Lamm zerfleischt und der Aggressor den Unterdrückten weiter nach Lust und Laune peinigt. Es ist nicht das Fest der Rechthaber, das Fest der Guten gegen die Bösen. Es ist das Fest des „Nelson-Prinzips“: Hab keine Angst!
Ich tu´ dir nichts.
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