Montag, 16. Dezember 2013

Im Vorübergehen


Eine Berührung, die nicht aufhört, ist unangenehm. Gott aber ist anders.

Von Peter Otten

"Der Glaube sollte nicht zu einer schlichten Emotion werden. Glauben ist ein ernsthaftes Ringen mit dem Geheimnis, vor dem man oft sprachlos bleibt", sagte der tschechische Theologe Tomas Halik, der in Deutschland gerade durch Bücher wie "Nachtgedanken eines Beichtvaters" einem breiteren interessierten Publikum bekannt geworden ist, in einem Interview. "Gott wohnt im unzugänglichen Licht! Wir sind immer mit dem Schweigen Gottes konfrontiert. Diese "Nacht des Glaubens" möchte ich respektieren." Vielleicht ist das ein Problem der katholischen Kirche: Dass sie dort weiterredet, wo Gott schweigt. Dass sie glaubt, dort Bescheid zu wissen (Stichwort Glaubenswissen), wo der Glaube doch eher Geheimnis bleibt. Als sei Glaube weniger Suche oder Vorschlag, weniger Erinnerung und Erzählung, sondern mehr eine Sammlung von Lehrsätzen, deren Einhaltung oder Missachtung über Glaube oder Nichtglaube entscheide (Stichwort Katechismus).

Zu oft wird ein Gott verkündet, der Grenzen nicht respektiert, sondern der fordert und Vorleistung erwartet. Aber sagt Jesus nicht sogar in der Begegnung mit dem blinden Bartimäus, wo die Problemlage eigentlich offensichtlich ist: Was willst du, das ich dir tun soll? (Lk 18, 41) und achtet dadurch selbst hier die Grenze seines Gegenübers? Gott ist ein Gott, der Grenzen achtet. Vielleicht ist das das wichtigste, was über ihn überhaupt zu sagen ist. Klaus Felder formuliert jedenfalls: „Es geht (…) nicht um philosophisches Verständnis, nicht um das Befolgen von Gesetzen oder psychologischen Einsichten, sondern um die Selbstverständlichkeit, jeden einzelnen Menschen wertzuschätzen. Durch die Taufe hat Gott jedem Menschen seine je eigene Persönlichkeit geschenkt. Diese gilt es wahrzunehmen, sie zu fördern und ihr gerecht zu werden. Feste Systeme stehen seinem Anliegen eher im Wege, sind vereinnahmend, besitzen nicht den Geist Gottes, der weht, wo er will. Es braucht also eine voraussetzungslose Ansicht menschlichen Geschehens. Das ist auf der einen Seite eine große Zumutung, da man sich nirgendswo festhalten kann, quasi mit offenen Händen kommt. Es ist aber auch eine gewisse Erleichterung, da nicht Theologie, Wissen usw. im Vordergrund (…) stehen müssen. (…) Durch diese Absichtslosigkeit kann (der junge Mensch) sein Herz öffnen und Orientierung finden. Wie das „Geheimnis unseres Glaubens“ kann der Mensch so Geheimnis bleiben und daraus mit Phantasie und Lebenskraft die Welt mitgestalten, die durch all die Agendas, Abkommen, schlauen Theorien und Modelle letztlich nicht programmierbar sind.“ Diese voraussetzungslose Absicht muss deutlich werden, auch im Reden von Gott.

Als in St. Theodor und St. Elisabeth in Köln-Höhenberg/Vingst vor 11 Jahren über die Sitzmöbel der neuerrichteten Kirche diskutiert wurde, verliefen die Argumentationsstränge im Grunde zwischen denjenigen, die Stühle wollten und denjenigen, die Bänke bevorzugten. Schließlich einigte man sich im Pfarrgemeinderat auf zusammenklappbare Bänke und gegen Stühle. Das entscheidende Argument, dass letztlich vielen einleuchtete war: In den Bänken können Menschen den Abstand zueinander frei wählen, was bei Stühlen aufgrund des festumrissenen Maßes der Sitzfläche nicht möglich ist. Man kann allenfalls einen Zwischenplatz frei lassen. Wenn sich aber jemand genau dazwischen setzt, sitzen wieder alle nah beieinander. Bei Bänken ist das tatsächlich anders. Es verändert aber die Situation, wenn Menschen den Abstand zueinander variieren können, gerade in einer Ritusfeier wie einer Messe oder einem Gottesdienst.

Was man als eine akademische Spinnerei abtun könnte, scheint für den Glauben und seine Vollzüge aber von ungeheurer Bedeutung. Natürlich geht es in der Kirche vor allem auch um Vergemeinschaftung. Aber damit ist nicht Uniformierung, Gleichmacherei oder, ganz schlimm, Verklumpung gemeint, was sich zumeist aus auf andere projizierte Erwartungen speist. In der Jugendzeit versuchten wir zu Beginn von Jugendmessen immer durch mehr oder weniger gelungene Moderationen zu Beginn Menschen dazu zu bringen, sich nicht in hintere Kirchenbänke zu „verdrücken“, sondern möglichst weit nach vorne zu kommen. Ein wirkliches Gemeinschafterlebnis vermuteten wir dann zu haben, wenn die Reihen geschlossen und möglichst wenige freie Plätze zu sehen waren. Enttäuschung breitete sich aus, wenn dies nicht gelang und so mancher Erwachsene doch sitzen blieb, wo er gewohnheitsmäßig immer saß. Im Rückblick wächst der Respekt vor denen, die dem oft eitlen jugendlichen Werben, eher Drängen nicht folgten. Denn wir hatten eine Grenze verletzt, waren dann sogar übergriffig geworden, wenn wir diejenigen vielleicht heimlich zu missachten begannen, die unseren doch so vernünftigen Anweisungen nicht Folge leisteten. In einer Kirche der Freien aber, wie sie Paulus beschreibt muss natürlich auch die freie Platzwahl gelten, das frei bestimmbare Maß des Abstandes zueinander und zum Heiligen. Was uns damals mangels dialektischer Erfahrung in noch nicht klar war, ist heute ein ehernes Grundgesetz und tiefe Überzeugung: Der Grad und die Qualität einer Gemeinschaft bemisst sich nicht in der Intensität des Zusammenhockens. Tiefste Solidarität und aufmerksamste Anteilnahme an einem Geschehen kommt womöglich gerade von dem, der es vom Rand her und mit Abstand wahrnimmt.

Daher ist das immer noch zu häufig benutzte Bild der Gemeinde als Pfarrfamilie auch für viele eher ein Schreckensbild. „Weihnachten oder auch das notorisch heile Bild einer christlichen Familie können viele Gewaltüberlebende nicht aushalten und nicht hören“, sagt Erika Kerstner, „weil es ihre eigene Erfahrung mit ihrer Herkunftsfamilie völlig ausblendet.“ Kerstner betreibt die Internetseite www.gott-suche.de. Sie ist eine Plattform, durch die die Lehrerin Menschen helfen und vernetzen möchte, die Gewalt erfahren haben – auch in der Kirche – und die sich fragen, ob ihnen die Religion in ihrer Situation (dennoch) helfen kann. „Und in der Pfarrfamilie kommen Gewaltopfer eher nicht vor. Dort sind am ehesten die Menschen mit vorzeigbaren Biographien gefragt, nicht diejenigen, die gescheitert sind und Brüche in ihrer Biographie aufweisen.“ Eine Familie funktioniert durch gewisse enge Formen von (Liebes)-beziehungen, durch Abhängigkeiten, Hierarchien und Ordnungen, Abstammungen und Aufrechterhaltung durch Ausbildung von Genealogien. Es ist unmöglich, sich für oder gegen eine Familie zu entscheiden. Man wird in sie hinein geboren, für immer. Zudem: „Das Bild von Gott als einem Vater ist oft vergiftet, weil der irdische Vater sexuelle und sonstige Gewalt angewandt hat, tyrannisch war, keinen Respekt vor einem Kind hatte, unberechenbar war. Das Bild von Gott als einer guten Mutter kann ebenfalls untauglich sein, wenn die Mutter zugeschaut hat und dem Kind nicht geholfen hat, der väterlichen Gewalt zu entkommen.“

Auch Papst Franziskus ist diesem Bild vom Priester als einem geistlichen Vater nicht abgeneigt. Ende Juni sagte er vor Ordensleuten und Priestern: „Ein Vater, der weiß, was es heißt, seine Kinder zu verteidigen. Und das ist eine Gnade, um die wir Priester bitten müssen: Väter sein (…). Nicht Vater zu werden, ist so, als gelange das Leben nicht an sein Ende: es bleibt mitten auf dem Weg stehen. Und deshalb müssen wir Väter sein. Doch das ist eine Gnade, die der Herr schenkt. Die Leute sagen zu uns: „Pater, Pater, Pater...“. Sie wollen uns so, als Väter, mit der Gnade der seelsorglichen Vaterschaft“. Wenngleich aus den Worten des Papstes eine überschießende südamerikanische Mentalität durchscheinen mag, ist doch das Bild nicht unproblematisch, weil es die Rolle des Seelsorgers auflädt: Nicht mit Kenntnissen, die nützlich wären zur Verrichtung einer seelsorgerlichen Aufgabe. Sondern theologisch und vor allem mit übergriffigen Beziehungsbeschreibungen. Der Priester ist kein Gegenüber, sondern per se unendlich viel mehr. Und wo die Gemeinde eine Familie ist, da passiert es: dass der Pfarrer seine wichtigsten Mitarbeitenden bedrängt, in jedem Fall zu seinen Geburtstags-, Namenstags und Weihejahrgangsfeiern zu kommen – worauf eine weibliche Mitarbeitende, die diese Erwartung als einzige infrage stellt mit Verweigerung und irgendwann mit Krankheit reagiert. Da werden gemeindliche Strukturen und sogar Angebote familial betrachtet: Das leidige Pfarrfest oder auch der traditionelle Weihnachtsbasar mit unausgesprochener und im Zweifel sanktionierter Anwesenheitspflicht. Die Besetzung von Räten und Gremien. Der Grad und der jeweilige Ausdruck von Wertschätzung. Kommunikationsstrukturen und Herrschaftswissen.

"Der Herr antwortete: Komm heraus und stell dich auf den Berg vor den Herrn! Da zog der Herr vorüber: Ein starker, heftiger Sturm, der die Berge zerriss und die Felsen zerbrach, ging dem Herrn voraus. Doch der Herr war nicht im Sturm. Nach dem Sturm kam ein Erdbeben. Doch der Herr war nicht im Erdbeben. Nach dem Beben kam ein Feuer. Doch der Herr war nicht im Feuer. Nach dem Feuer kam ein sanftes, leises Säuseln. Als Elija es hörte, hüllte er sein Gesicht in den Mantel, trat hinaus und stellte sich an den Eingang der Höhle." (1. Kön 19, 11 – 13).

Gott berührt die Menschen im Vorübergehen. Eine Berührung ist flüchtig, sanft und geht schnell vorbei. Aber nur weil sie flüchtig ist, ist sie nicht oberflächlich, im Gegenteil. Und nur weil sie vorbei geht, können neue andere Berührungen geschehen. Eine Berührung, die nicht aufhört, ist unangenehm, wird zum „Betatschen“. Verletzt Grenzen, ist übergriffig. Gott aber ist, wie wir sahen, eben alles andere als das.


Stark gekürzte Version eines Beitrags aus der Zeitschrift Hirschberg, Ausgabe 10/2013

1 Kommentar:

  1. Der angegebene Link ist nicht ganz richtig. Es muss heißen " http://www.gottes-suche.de/ ".

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