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Von Peter Otten
In Australien ist mit 79 Jahren der Physiker John Mainstone gestorben. Er hat mehr als ein halbes Jahrhundert lang den langwierigsten Labortest der Welt betreut. Das sogenannte „Pechtropfenexperiment“ war 1927 von Thomas Parnell gestartet worden. Er wollte nachweisen, dass Pech sich zwar wie ein Feststoff anfühlt, der sich bei Raumtemperatur mit einem Hammer entzwei schlagen lässt, sich aber trotzdem wie eine Flüssigkeit verhält. Dazu füllte er Pech in einen Glastrichter. Es dauerte allerdings allein drei Jahre, bis sich das Pech, ein Derivat aus Teer, gesetzt hatte. Daraufhin wurde der Trichter geöffnet, damit das Pech hinausfließen könne. In den seitdem vergangenen 83 Jahren seien nur acht Tropfen Pech nach unten getropft. Dies habe allerdings nie jemand – auch nicht der nun verstorbene Leiter des Experiments - beobachtet, teilte die Universität mit. Drei Webkameras sollen nun dafür sorgen, dass der nächste Tropfen endlich der Nachwelt überliefert werden kann.
An dem Tag, wo der Tod von Professor John Mainstone gemeldet wird, hat der VFB Stuttgart nach drei Jahren Amtszeit seinen Trainer Bruno Labbadia entlassen. Drei Jahre, das werten manche Sportjournalisten schon als Erfolg eines Mannes, der im Bundesligageschäft mitunter auch als schwierig erlebt wird. Zugleich wird über die Eröffnung der umstrittenen Waldschlösschenbrücke in Dresden berichtet, deren Bau im Jahr 2009 begann. Im Internet kann man in einem Zeitrafferfilm den Verlauf der Bauarbeiten vom ersten bis zum letzten Tag verfolgen. Vier Jahre Bauzeit rauschen in einer halben Stunde Mittagspause vorbei. Drei Jahre Fußballtrainer und vier Jahre Brückenbau. Das ist noch nichts gegen das Pechtropfen-Experiment von John Mainstone. Oder gegen das Musikstück "As slow as possible" von John Cage, was in Halberstadt zu hören ist. Cage verband mit seiner durch einen Zufallsgenerator erzeugten Komposition die Anweisung, sie „as slow as possible“ - so langsam wie möglich zu spielen. 639 Jahre soll es dauern, bis das Orgelwerk verklingt. Seit seinem Start im Jahr 2001 gab es überhaupt erst zwölf verschiedene Töne zu hören, den nächsten gibts am 5. Oktober.
Man kann in derlei Geschichten naheliegender Weise einen Anlass sehen, über das Vergehen und Verfließen von Zeit nachzudenken. Im Erklingen einer Komposition über mehrere hundert Jahre hinweg liegt zudem auch eine Provokation: Welchen Sinn soll das haben? Niemand wird je in der Lage sein, das Stück in seiner Gesamtheit zu hören. Aber ist das andererseits nicht ein schönes Bild für ein grundsätzliches Phänomen menschlichen Erkennens: nämlich nie in der Lage zu sein, sämtliche Zusammenhänge der Welt zu durchblicken?
Und vielleicht, das kann diese Geschichte auch zeigen, kommt es gar nicht so drauf an, alle Zusammenhänge zu verstehen. Vielleicht reichen auch ein paar. Hauptsache, die Neugier bleibt. Sie ist eine wichtige Ressource, zumal für einen Wissenschaftler. In einem Interview hat Mainstone mal davon erzählt, dass täglich etwa 100 Besucher vorbei kommen, um den Versuchsaufbau persönlich in Augenschein zu nehmen. Etwa 300000 Menschen klicken täglich die Live-Kamera im Internet an. Und auch seine Familie habe seine Motivation für dieses Experiment verstanden: „Sie haben nur wie ich bemerkt, dass es Dinge gibt, selbst bei so einem simplen Experiment, die es noch zu verstehen gilt. Wenn möglich auf einer sich stetig vertiefenden Ebene. Ganz so, wie es sich für einen Physiker ziemt.“ Auch wenn es 80 Jahre und mehr dauert: Ein Physiker bleibt auf der Brücke.
In den Nachrufen auf den Physiker wiesen einige auf die besondere Tragik seines Schaffens hin: Er selbst habe ja nie das Fallen eines Tropfens gesehen. Einmal habe ihn Durst überkommen und der Gang zum Getränkeautomaten ließ ihn das Fallen des Tropfens verpassen. Einmal tropfte es, als er sich frei nahm, um mit seiner Familie Zeit zu verbringen. Und einmal habe die Kamera versagt und die entscheidenden Bilder nicht geliefert. Mainstone selbst hielt es für wenig wahrscheinlich, dass überhaupt irgendein Mensch jemals live das nächste Tropfen würde beobachten können. Denn selbst wenn ein Mensch niemals den Versuchsaufbau aus den Augen lassen würde, wäre es doch wahrscheinlicher, dass er durch einen Lidschlag den Moment doch verpassen würde. Denn der Augenblick zwischen dem Abreißen des Tropfens und seinem Aufsetzen im Becherglas schätzte der Physiker lediglich auf etwa 0,1 Sekunden. Daher gibt’s nun drei Kameras für den Moment der Momente. Falls eine ausfällt. Oder zwei.
Würde Jesus heute vom Himmelreich predigen, würde er vermutlich nicht mehr von Jungfrauen berichten. Sondern vielleicht vom Physiker John Mainstone erzählen, der mit großer Neugier und beruflicher Profession ein Becherglas beobachtet hat. Denn mit dem Himmelreich ist es wie mit der Physik: Es braucht Leidenschaft und vor allem eine nicht versiegende Neugier auf die Welt.
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