Montag, 16. Juli 2012

Die Herausforderung einer aufgeklärten Religion

Foto: Peter Otten
Neulich berichtete jemand von den Urlaubsvorbereitungen eines Arbeitskollegen. Man habe eine Flugreise in die Sonne gebucht, seine Frau und er freuten sich schon sehr, schließlich habe man lange gearbeitet und sich den Urlaub insofern auch sehr verdient. Dennoch könne man nicht so ganz unbeschwert fahren, leider, leider, denn die Schwiegermutter habe man gerade in ein Hospiz gebracht, Lungenkrebs, doch wann sie stürbe, das sei schwer vorauszusagen. Insofern habe man alles mit dem Bestatter besprochen, das sei ja heute leichter möglich als früher, falls es also während ihres Urlaubs geschehe, dann sei die sofortige Einäscherung geplant, die Urne bleibe dann für eine Beerdigungsfeier stehen, bis man wieder zurück sei. Das sei insgesamt schon eine große Erleichterung, die Sorge, wie man es nun machen solle, sei genommen, Unruhe bleibe, aber wenn man von einer Urlaubsreise früher zurück kommen müsse, dann sei ja auch schlechterdings wenig Erholung möglich.

Es soll hier nicht um eine moralische Beurteilung oder gar Verurteilung gehen. Vielleicht haben beide Angst vor der Begegnung mit dem Tod. Vielleicht sind sie unsicher, ungeübt - vielleicht sind sie dementsprechend beraten wurden - wer will das schon wissen? Vielleicht bestanden für die Urlaubszeit tatsächlich entsprechende dringende Verpflichtungen, deren Aufschub oder Absage schwierig gewesen wäre. Insofern erscheinen die Pläne und getroffenen Absprachen mit Hospiz und Bestatter bezüglich des Sterbens der Schwiegermutter noch nicht einmal gänzlich unvernünftig. Doch ist es schade und tragisch, dass ein Aspekt oder eine Ebene der Wirklichkeit in dieser Geschichte nicht vorkommt, den die Vernunft allein nicht automatisch beschreiben kann: Dass das Leben ein Geschenk ist, beispielsweise. Und dass auch eine gute Todesstunde ein Geschenk ist, für das Menschen nur in gegenseitiger Verantwortung sorgen können. Und: Dass das Leben grundsätzlich Vieles bereithält, was sich Menschen niemals selber machen können, sondern was sie nur vom anderen her denken können, was nur vom anderen her möglich ist, was nur durch andere gelingt - kurzum: was man sich schenken lassen muss.

Hier setzt die Bildersprache der Religion ein. Deutlich wurde das in der vergangenen Woche bei der Beerdigung eines Mannes, der für die Arbeit viele Jahre sehr wichtig war und der sich erschossen hatte. Zwei Dinge waren sehr eindrücklich: Die Unfassbarkeit und Überwältigung des Geschehens war nahezu allen Menschen ins Gesicht geschrieben. Und seine Bewältigung suchte sich Wege: Im Singen in der Messe, im Teilen von Regenschirmplätzen, in Seitengesprächen, im gemeinsamen Schweigen. Am Grab schließlich standen die Witwe und die beiden jungen Töchter. Jeder umarmte sie dort oder gab ihnen die Hand, ob er sie nun gut kannte, eher flüchtig oder auch gar nicht. Ein heutzutage nicht mehr sehr übliches und auch schwieriges Ritual, was aber Respekt abverlangte, denn die drei hatten offensichtlich genau das gespürt: Es mag unvernünftig sein, dies zu tun. Aber es schien ihr besonderer Ausdruck davon zu sein, dass wohl nur eine Gemeinschaft (des Glaubens) über diesen Graben der Not und des Schmerzes hinweghilft.

Religionen sind voller solcher und ähnlicher Rituale. Sie sprechen eine besondere Sprache und transportieren Botschaften, die mit der reinen Vernunft nicht immer hinreichend zu entschlüsseln sind. Sie erzählen vor allem davon, dass das eigene Leben relativ ist - eingefügt in in Beziehungen zu anderen Menschen, zur Schöpfung, zu Ressourcen. Um nichts anderes geht es im übrigen beim Ritual der Beschneidung im Judentum und im Islam. Wenn die Juden glauben, dass sie mit der Beschneidung in den Bund Abrahams mit Gott eintreten, so ist sie eine (lebenslängliche tägliche) Vergewisserung dafür, dass sie im Leben aufeinander angewiesen sein werden, miteinander ein Bündnis schließen, durch das Gott dann das Gute füreinander wirkt. Die Botschaft dieses Rituals ist allerdings wiederum so aktuell, dass sie auch für die säkulare Gesellschaft von Bedeutung ist. Ein Bündnis für das Gute - das dies keine schlechte Idee ist, dafür braucht es nicht mal einen Gott.

So ist an der Diskussion um das Kölner Beschneidungsurteil eigentlich am tragischsten, dass diese Sprache, die Idee, die hinter rituellen Vollzügen steht immer weniger verstanden wird. "In einem aufgeklärten Land, das Deutschland sein will und sein sollte, haben archaische Rituale nichts, aber auch gar nichts zu suchen, auch wenn das religiös tausendmal verbrämt und begründet wird", hieß es in in einem von vielen zumeist ähnlich negativen, zum Teil aggressiven Leserbriefen dazu am vergangenen Samstag im Kölner Stadt-Anzeiger. "Aufklärung, wie sie gerade auch die deutsche Philosophie gelehrt hat, würde heißen, die eigene Weltanschauung zu relativieren", schrieb hingegen Navid Kermani unlängst in der Süddeutschen Zeitung,  "und also im eigenen Handeln und Reden immer in Rechnung zu stellen, dass andere die Welt ganz anders sehen. (...) Aufklärung ist nicht nur die Herrschaft der Vernunft, sondern zugleich das Einsehen in deren Begrenztheit." Aufgeklärte Religion tut also Not - auch mit ihrer Deutung der Welt durch Geschichten und Rituale. Übrigens weniger durch aufgesagte vermeintliche Glaubenswahrheiten, sondern durch gemeinsames reflektiertes Erleben. Aufgeklärte Religion kann die Welt reicher machen, Gemeinschaft stiften und stärken und Menschen solidarischer werden lassen. Dafür moderne Bilder zu finden, bleibt bis auf weiteres die herausfordernde Aufgabe der Kirchen und Religionen. Insofern sind die Gesten, die die Witwe und die Töchter bei der Beerdigung des Ehemannes und Vaters mit den Zurückgebliebenen teilten, nicht nur ein wichtiges Signal an eine Trauergemeinde, sondern auch ein Geschenk an eine verunsicherte säkulare Gesellschaft.


2 Kommentare:

  1. Besonders tragisch finde ich, wenn im Raum der Kirche die Sprache der Rituale nicht mehr verstanden wird. Letzte Woche wurde ich von einer evangelischen Kirchenzeitung zu einem Statement angefragt: "Ist Beschneidung Körperverletzung". 600 Zeichen waren vorgesehen. Ich habe kein Statement abgegeben mit der Begründung, ich bräuchte schon mehr als 600 Zeichen um zu erklären, warum ich diese Fragestellung für verfehlt halte.
    Nach diesem Erlebnis hat mir Ihr Artikel umso besser gefallen. Danke schön!

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  2. „Pure Vernunft darf niemals siegen“ singen Tocotronic. Das könnte auch der Soundtrack zu Peter Ottens Kommentar sein: „Beschneidung? ja oder nein“. Die Gegner der Beschneidung aus religiösen Motiven reklamieren für sich gerne diese reine Vernunft, und grenzen sich damit von vermeintlich unvernünftigen Religiösen ab. Gerne würde ich mich mit einem Vernunftmenschen treffen und seinen Tagesablauf darauf hin abklopfen, ob er wirklich immer nur vernunftmotiviert handelt. Religion und Vernunft müssen kein Widerspruch sein, Religion kann vielmehr auch eine Quelle säkularer Gesellschaften sein. Das bedeutet natürlich, dass säkulare Bürgerinnen und Bürger bereit sind, auch das produktiv kritische Potential von Religion gegenüber einer sich absolut setzenden vernünftigen Gesellschaft zu akzeptieren. Gleichzeitig müssen religiös verankerte Bürger in der Lage sein, selbstkritisch die eigenen Vorstellungen in Frage stellen zu lassen. Nebenbei: die Vorstellung eines konstruktiven Dialogs von säkular und religiös ausgerichteten Lebens- und Gesellschaftskonzepten verbindet und ärgert zugleich Fundamentalisten und Atheisten. Jürgen Habermas, der sich selbst als religiös unmusikalisch einordnet, ist hingegen davon überzeugt dass „ moderne Vernunft wird sich selbst nur verstehen lernen, wenn sie ihre Stellung zum zeitgenössischen, reflexiv gewordenen religiösen Bewusstsein klärt, indem sie den gemeinsamen Ursprung der beiden komplementären Gestalten des Geistes aus jenem Schub der Achsenzeit begreift.“ (sehr lesenswert: http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/articleevb7x-1.110807 )
    Was hat das nun mit der Beschneidungsdebatte zu tun? Die Beschneidungsgegner müssten einsehen, dass zu einem Freiheitsideal einer säkularen Gesellschaft auch die Freiheit religiöser Praktiken zählt, auch wenn sie für Außenstehende unvernünftig erscheinen. Und die Befürworter einer legalen Beschneidung müssen anerkennen, dass eine Gesellschaft auch das Recht hat, religiös motivierter Beschneidung Grenzen zu setzen. Daher ist es zu begrüßen, dass in Berlin fraktionsübergreifend an einer Gesetzesformulierung gearbeitet wird, die Beschneidung auf sicheren iuristischen Boden setzt, dass heißt unter bestimmten Rahmenbedingungen erlaub ist: qualifiziertes medizinisches Personal und Altersbegrenzung.
    Das Zusammenspiel wechselseitiger Achtung zwischen religiösen und säkularen Menschen in unserer Gesellschaft ist unabdingbar, ansonsten wird in naher Zukunft die ein oder andere Seite ein anderes Stück von Tocotronic singen: „Aber hier leben, nein Danke“

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