Samstag, 30. Juli 2011

Ich bin...der ich bin?

Foto: Peter Otten
Die Suche nach Identität offenbart sich im Film - und im Computerspiel. Eindrücke einer Fachtagung

Es beginnt mit einem gut fünf Minuten langen Sonnenaufgang. Leben dämmert aus der Finsternis herauf. Grillen zirpen. Umrisse von Bäumen zeichnen sich ab. Morgenröte. Minutenlang verharrt die Kamera auf diesem Bild. Dann springt Carlos Reygadas Film „Stilles Licht“ an den Küchentisch von Johan und Esther. Sie sind Mitglieder einer mennonitischen Gemeinde, Nachfahren deutscher Siedler, die sich in den zwanziger Jahren in Mexiko niederließen. Der Vater sitzt allein am Tisch, weinend. Seine Frau Esther stellt sich dazu. „Ich liebe dich, Johan“, sagt sie, und er sagt, er liebe sie auch. Doch der Mann liebt zugleich eine andere Frau. Das ist die Geschichte, ein Ehedrama. Diese Liebe sei das Werk des Teufels, sagt Johans Vater, als er erfährt, was seinem Sohn passiert ist. „Ich glaube, dass sie das Werk Gottes ist“, antwortet Johan. Und unausgesprochen ist klar, dass beide Recht haben. Insofern führte dieser Film, 2007 in Cannes mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet, beispielhaft mitten in das Thema, das sich die internationale Forschungsgruppe „Film und Theologie“ bei ihrer diesjährigen Jahrestagung gestellt hatte: Dem Phänomen des Grenzgängers in näher zu kommen. Menschen zu zeigen, die die Orientierung verloren haben und auf Identitätssuche sind. „Lost in transition“ – der Titel der Tagung spielte somit nicht zufällig mit dem ähnlich klingenden Namen des Films „Lost in translation“ von Sofie Coppola aus dem Jahr 2003. Darin streift ein alternder Schauspieler schlaflos, müde und mit galligem Humor angesichts seiner Verlorenheit und Sprachlosigkeit in einer völlig fremden Metropole ziellos mit einer jungen Frau als Komplizin durch das nächtliche Tokio. Filme wie diese beiden dort gezeigten markieren jenen unbehaglichen „Transitbereich“ zwischen Gewissheiten, der jemanden wie Johan wie ein Eindringling überfällt, einen anderen wie den von Bill Murray gespielten Bob Harris in Coppolas Film zunächst in einer stoischen Tappigkeit gefangen hält. Und der aber bewältigt und durchmessen werden will.


Einmal im Jahr kommen in der Katholischen Akademie Schwerte Theologen und Wissenschaftler zusammen, um Filme zu analysieren. Diese Forschungsgruppe existiert mittlerweile seit 22 Jahren. Doch wurden nicht nur Filme geschaut: Auch durch religionsphilosophische oder filmästhetische Zugänge in Vorträgen und Diskussionsrunden näherten sich die Teilnehmenden – in erster Linie Religionswissenschaftler und Theologen aus dem deutschsprachigen Raum der Frage, wie das Kino als „postmoderner Ort von Offenbarungsgeschehen“ den Verlust einer Orientierung ausdrückt und wie dieser filmische Ausdruck für das Publikum fruchtbar wird. Denn diese Aspekt war die Quintessenz aller Referierenden: Das Kino ist ein Ort, in dem das Publikum stets existenziell herausgefordert wird – zum Beispiel angesichts von prekären Erfahrungen von Identitätssicherung zum im Zuge der Globalisierung. Das unterstrich Joachim Valentin, Direktor im Frankfurter „Haus am Dom“ und Professor am Fachbereich katholischeTheologie an der Universität Frankfurt in seinem Grundsatzreferat. Einerseits habe die „Entbettung“ des modernen Menschen aus engen sozialen Gefügen beispielsweise zu seiner Befreiung aus religiöser Fremdbestimmtheit geführt und das Ende metaphysischer Subjektmodelle ermöglicht. Andererseits verstehe sich der Einzelne nun immer seltener als Subjekt, als ein den Dingen Zugrundeliegender, sondern im Sinne einer Preisgabe an Marktmechanismen erfahre er sich als ein Unterworfener.



Mit dem Film „Die Novene“ von Bertrand Émons aus dem Jahr 2005 stellte Daria Pezzoli-Olgiati vom Zentrum für Religion, Wirtschaft und Politik an der Universität Zürich gerade dafür ein schönes Beispiel vor. Dort folgt der Zuschauer der Ärztin Jeanne. Sie fühlt sich verantwortlich für den Tod einer Patientin und deren Baby durch den gewalttätigen Ehemann. Als sie sich in ihrer Verzweiflung in der Nähe einer Kirche umbringen will, trifft sie auf den jungen François, der dort neun Tage lang für seine im Sterben liegende Großmutter betet. Von seiner stillen Trauer tief berührt, begleitet sie François in sein Dorf. Zwar kann auch sie für die alte Frau nichts mehr tun, kommt aber durch diese Erfahrung wieder mit sich selbst ins Reine. Hier begleiten beide Figuren einander auf ihrer „Transitstrecke“. Der dokumentarische, fast ethnographische Stile des Filmes – aufgeklärte Akademikerin aus der Stadt trifft auf einen leicht naiven Dorfjungen – lässt den Fortgang der religiösen Weltbilder der beiden Figuren offen: „Der Film respektiert einerseits offensichtlich stabilisierende Glaubensgewissheit, erkennt aber gleichzeitig die Schwierigkeiten an, in dem säkularen Umfeld an Gott zu glauben“, so Pezzoli-Olgiati. Ihre Begegnung führe nicht zu Wundern, sondern zu Güte und erneuerter Hoffnung.

Eine bislang in der Theologie und Religionspädagogik weitgehend unbeachtete Gruppe von Grenzgängern will unterdessen Thimo Zirpel vom Institut für katholische Theologie und ihre Didaktik an der Universität Münster in den Blick nehmen, der in Schwerte sein faszinierendes Promotionsvorhaben präsentierte. Zirpel plädiert dafür, Computerspielen einen Weg in den Religionsunterricht zu bahnen – und legte dafür starke Argumente und Beispiele vor. Zum Einstieg präsentierte er ein Video, das einen „virtuellen Trauerzug“ zeigte. Spieler eines Computerspiels im Internet hatten ihn für ihren tatsächlich verstorbenen Mitspieler Daniel organisiert: „Daniel war ein sympathischer und humorvoller Mensch und fand im Spiel „World of Warcraft“ neue Freunde, die ihn stärkten und halfen, den verzweifelten Kampf gegen seine Krankheit fortzuführen“, heißt es da. „Seine „Reallife-Freunde“ hatten ihn im Stich gelassen.“ Doddie, so Daniels Name im Spiel – sei ein „Kämpfer, ein Ritter in einer Welt ohne Ritterlichkeit“ gewesen. Dann zeigt der Film Spielfiguren von Mitspielern, die in einer Prozession durch virtuelle Wälder und Wiesen innerhalb dieses Spiels ziehen und an einer Art Kultstätte stehen bleiben: Ritter, Hexen und andere Fabelwesen mit Namen Prior, Darkbull, Thian, Redwitch oder Nayvel.


 

Dieses Beispiel mache deutlich, so Zirpel, dass es einerseits Möglichkeiten, aber durchaus auch Notwendigkeiten gebe, sich im Religionsunterricht mit diesen durchaus religiös zu nennenden Erfahrungen Jugendlicher zu beschäftigen. Denn, so Zirpel, viele Computerspiele seien mit religiöser Symbolik und quasi oder tatsächlich religiösen Vollzügen durchzogen. „Jugendliche werden dort zu religiösen Expertinnen.“ Ein Dialog von Theologie und in dieser Weise medial-verflüssigter Religiosität sei daher nötig. Zirpel wies darauf hin, dass Untersuchungen zufolge 81 % aller Jugendlichen zwischen zwölf und 19 Jahren zumindest hin und wieder Computer- und Videospiele spielten, 46 % sogar mehr als einmal in der Woche. „Computerspiele entwickeln sich also zu einem neuen Leitmedium. Allerdings taucht dieses mit den auch wertvollen Erfahrungen Jugendlicher in religionspädagogischen Kontexten kaum auf“, so Zirpel. Ein zentrales Anliegen seiner Arbeit sei es daher, theoretische und praktische Grundlegungen für eine Einbindung des Mediums Computerspiele in den Religionsunterricht vorzulegen.

erschienen in Publik Forum 14/2011

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