Foto: Peter Otten |
„Wir haben drei Bahnen!“ hat eine Gastwirtschaft wie trotzig angeschlagen und versucht gegen den Trend Kegelfreunde anzulocken. Daneben wirbt eine Pension um Übernachtungsgäste. Denn schon auf der Fahrt mit der Straßenbahn nach Dresden-Prohlis fallen hin und wieder leer stehende Wohnblocks ins Auge. Die Türen und Fenster vernagelt oder zugemauert, Zufahrtsstraßen, die langsam von Pflanzen zurück erobert werden. Manch eine Plattenbausiedlung wie diese hat sich in den vergangenen Jahren im Osten Deutschlands massiv verändert.
Der aus dem Sorbischen stammende Ortsname Prohlis bedeutet übersetzt soviel wie Aue, Busch- oder Wiesenland. Das klingt nach Idylle, und ein bisschen davon zeigt sich in großzügigen Blumenbeeten und Grünanlagen, die in einem merkwürdigen Kontrast zu den Wohnblocks stehen. Kiesgruben und Lehmkuhlen gab es hier, die Menschen lebten lange von Ziegelherstellung und Landwirtschaft. Stolz ist man auf Johann Georg Palitzsch, der sich im 19. Jahrhundert mit Mathematik, Astronomie, Physik und Botanik befasste, als einer der ersten Bauern im Dresdner Raum Kartoffeln anbaute und auf dem Dresdner Schloss den ersten Blitzableiter der Stadt installierte.
Denn schon 2002 leben nur noch 14000 Menschen hier, darunter 2000 Christen. Die größten Wohnblocks werden abgerissen, Grünflächen entstehen. „Früher war die soziale Mischung hier sehr gut“, sagt Häckel. Viele junge Familien seien nach Prohlis gezogen. „Heute bleiben die zurück, die sich einen Umzug nicht leisten können.“ Das Durchschnittsalter in Prohlis liegt bei etwa 46, in anderen Plattenbaugemeinden schon bei über 50 Jahren. Der demographische Wandel und die vor allem durch Arbeitslosigkeit bedingten sozialen Verwerfungen bilden zentrale Herausforderungen von Kirchengemeinden wie der in Prohlis. Hier brachte der Verkauf des städtischen Wohnungsbestandes an die GAGFAH group, das nach eigenen Angaben bundesweit mit rund 165000 Mietwohnungen führende börsennotierte Wohnungsunternehmen in Deutschland Schwierigkeiten für Mieter mit sich, über die aber nur wenige offen reden möchten. Eine schmale junge Frau erzählt leise von neuen Fenstern, die sie benötigt, die aber nicht eingebaut werden. Sie geht regelmäßig zum „Prohliser Frühstück“, zu dem die Gemeinde einmal pro Woche ärmere Menschen wie sie einlädt. „Ich genieße vor allem das Zusammensein, das gibt’s hier noch“ sagt sie. „Die Menschen sollen spüren: Hier sind wir herzlich willkommen, hier gibt man sich für uns Mühe, hier sind wir wertgeschätzt und geachtet“, erklärt Diakon Michael Sollfrank. In der Regel kommen etwa 40 Gäste. Ehrenamtliche Kräfte aus der Gemeinde, aber auch aus dem Umfeld sorgen für das Essen. Aber auch das gemeinsame Tischtennisspiel hat sich zum wichtigen wöchentlichen Ritual beim Prohliser Frühstück entwickelt. „Wir möchten eine Brücke bauen zu Menschen aus dem Stadtteil, die sonst eher wenig oder nichts mit der Kirche zu tun haben.“ Meistens haben sie sich Kirchengemeinden wie die in Prohlis mit anderen sozialen Initiativen im Rahmen von städtischem Quartiersmanagement vernetzt. Zum Kirchentag präsentieren einige dieser Gemeinden ihre Arbeit. „Kirche in der Platte: Wir machen Platte!“ lautet ihr selbstbewusstes Motto. Die Gemeinden eint nicht nur das gemeinsame Schicksal eines alternden und zugleich rasant kleiner werdenden Quartiers in einem insgesamt areligiösen Umfeld. Sie eint auch die Zuversicht, gerade dort, wo alle Zeichen auf Rückzug stehen, ihren notwendigen Platz zu haben.
Das denkt man auch in Chemnitz. Im Bereich der dortigen Dietrich-Bonhoeffer-Kirchengemeinde lebten einmal 90000 Menschen in den Plattenbauten. Heute sind noch 38000 Bewohner übrig, die evangelische Gemeinde schrumpfte von 7000 auf heute 3000 Mitglieder. Diesen Trends begegnet man mit unbekümmerten Sprüngen über den Tellerrand. Religiöse Unmusikalität sei oft mit Offenheit gepaart, findet man – durchaus eine Chance sei das: „Wir wollen Kirche für andere sein, wollen über den traditionellen Rahmen hinausgehen und trotzdem unsere Identität behalten“, sagt Pfarrer Stephan Brenner. Zum Beispiel mit „Bonhoeffers Abendschoppen“ in einem Chemnitzer Café. Dahinter steht die Idee, über christliche Themen mitten in der Stadt an einem nichtkirchlichen Ort zu reden. „Woran du dein Herz hängst - Gedanken zur Religiosität“ hieß der erste Abend vor inzwischen zwölf Jahren. Seitdem findet das zwanglose Treffen jeden Monat statt, zu dem jeweils zwischen 15 und 70 Menschen kommen, davon etwa die Hälfte mit einem nichtkirchlichen Hintergrund.
Mit einem anderen Projekt wagt sich die Gemeinde noch weiter hinter den Mauern ihres Gemeindezentrums hervor. Dann geht es mitten in ein großes Chemnitzer Einkaufszentrum. Hier gestaltet sie ein- oder zweimal im Jahr Aktionstage. Dabei wird einerseits ein bestimmtes Thema – meistens aus dem christlichen Festkalender – in den Fordergrund gerückt: "Wuchtig fruchtig - Aktionstage zum Erntedankfest“ oder „Das Gelbe vom Ei - Aktionstage zum Osterfest“ sind typische Themen. Andererseits möchte man die Gemeinde so stärker ins Bewusstsein der Menschen rücken. An Ständen, auf einer Bühne und in deren Umfeld gibt’s verschiedene Aktionen - darunter Interviews, Musik und Tänze bis hin zu Kochaktionen, Spielen sowie Bastel- und Gesprächsangeboten. Manche Besucher des Einkaufszentrums nähmen dieses kirchliche Engagement im Vorbeigehen zur Kenntnis, andere berühre es wenig oder gar nicht, erzählen die Veranstalter. „Dennoch bleiben manche bewusst dabei und bringen Zeit mit. Es kommt am Rand auch zu Gesprächen, die mehr durch Interesse an der Kirche als durch Kirchenkritik geprägt sind.“
Es komme eben darauf an, kirchenferne Menschen mit irdischen Themen einzuladen, sagt Ingrid Häckel zustimmend. Große und kleine Menschen. Sie leitet in Prohlis die jährlichen Kinderbibeltage mit bis zu 40 Kindern, die zum Beispiel unter dem Motto „Feuer, Wasser, Luft“ stehen. Als sie das Projekt für Schüler aus der 1. bis 6. Klasse der Schulen im Stadtteil startete, gab es einige Eltern, die zunächst Angst hatten, ihnen die Kinder anzuvertrauen. „Die meisten hatten das Gemeindezentrum nie von innen gesehen“, sagt Häckel. Inzwischen kommen viele Eltern abends gerne dazu. „Gott braucht kein Repräsentationsgebäude, das ihn unnahbar und fern erscheinen lässt, sondern bei ihm ist Geborgenheit. Er bietet ein Zentrum an, wo Menschen ausruhen können und Kraft finden für die Aufgaben, die Christen zu lösen haben“, hieß es bei der Einweihung der Prohliser Kirche vor dreißig Jahren. Heute scheint eine wichtige Aufgabe von Kirchengemeinden im Plattenbau darin zu bestehen, gegen die Zentrifugalkräfte in den Quartieren zu Konzepten beizutragen, die Zusammenhalt und Gemeinschaft neu denken und dazu Anstöße zu geben. Daher arbeiten sie vor allem in Zwischenräumen der Quartiere. Der Glockenturm wurde der Kirche übrigens erst 2006 hinzugefügt. Nicht unumstritten war dies. In einem Stadtteil, in dem zurzeit mehr abgerissen als gebaut wird, ist ein neuer Kirchenturm aber eben auch ein wichtiges Standortbekenntnis.
erschienen in Publik-Forum 14/2011
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