Montag, 20. Juni 2011

Renaissance der Blutgrätsche

Sein Buch sei nicht nur polemisch, sondern auch katechetisch, so Kurienkardinal Paul Cordes anlässlich der Vorstellung von Matthias Matusseks Band "Das katholische Abenteuer" neulich in Rom. Dem engagierten Christen, "ob geweihten Hirten oder getauften Gliedern der Kirche, die ihren Taufauftrag ernst nehmen," sei es nicht nur eine "Provokation," sondern ein "echter Impuls zum Apostolat." Matusseks Ziel sei die "Präzision, das geht manchmal bis zur Schmerzgrenze, ja, wenn es sein muss, bis zur Bosheit, die unser unerlöstes Selbst, man muss es verschämt zugeben, durchaus ansprechen kann." Es gefalle dem Autor, „seinem Werben für den Glauben bisweilen die Türen einzutreten“. Mit Vehemenz voretragene Glaubensüberzeugungen, die sich zu Polemiken verdichten; als Provokationen getarnte Präzisierungen - das ist so recht nach dem Geschmack des gebürtigen Sauerländers. Mehr Blutgrätsche, weniger Kurzpassspiel also gehört offensichtlich auf den katholischen Trainingsplan. Und hin und wieder das Einüben taktischer Fouls. Auf diesem Hintergrund ist interessant, was zum Wochenende aus Rottenburg-Stuttgart zu hören war.
Zwischen den Positionen "alles, was sexuell möglich ist, ist auch erlaubt und "‚fast’ nichts ist statthaft, was außerhalb der Ehe sexuell passiert" – dazwischen gebe es heute kaum mehr eine Verständigung, schreiben die Veranstalter der Tagung "Let´s think about sex" von der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in ihrer Ausschreibung. Beide Fraktionen seien sich fremd geworden. Weder gemeinsames Denken, noch gemeinsame Werte, noch eine gemeinsame Sprache sei zwischen diesen Extremen anzutreffen: "Die katholische Kirche führt folglich in Sachen Sexualität in der öffentlichen Wahrnehmung einen Monolog und läuft damit Gefahr, einen wesentlichen Lebensbereich nicht mehr mitgestalten zu können," heißt es. Dies wiege umso schwerer, als die katholische Kirche durch die Vorkommnisse sexueller Gewalt in den eigenen Reihen über ihre hohen Ansprüche selber stolperte. Nun hat Bischof Gebhard Fürst die Tagung abgesagt. Er befürchte, so ließ er mitteilen, die genannte Tagung führe in dieser Situation zu "Polarisierungen", die ein Gespräch zwischen den Vertretern der unterschiedlichen theologischen und kirchenpolitischen Richtungen sehr erschweren oder unmöglich machen würde. Es fällt schwer, diese Entscheidung nicht mit Äußerungen solcher Art in Zusammenhang zu sehen.

"Die Kirchen sind hoch narzisstisch und fortwährend auf sich selbst fixiert", schreibt der evangelische Theologe Friedrich-Wilhelm Graf. Es fehle ihnen zunehmend an überzeuendem Personal, speziell an gebildeten Führungskräften. Fatal, wenn diese theologische Leerstelle zunehmend mit Polemik, Provokation und Geschrei gefüllt wird - und das Ganze auch noch mit kirchenamtlichem Wohlwollen. Jeder Freund klassischer Musik weiß, dass die Wahrheit symphonisch ist - und erfreut sich daran. Dies mit Freude, Können und intellektueller Schärfe zu leben war mal die Stärke der katholischen Kirche.

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