Dienstag, 14. Juni 2011

Narzisstischer Ego-Trip

Unter den schönsten Geschenken, die ein Kirchentag machen kann, gehören ohne Zweifel die täglichen Bibelarbeiten. So war es auch wieder in diesem Jahr in Dresden. Geschenk deshalb, denn dort waren Sätze zu hören wie die von Fulbert Steffensky. "Gott hat Lieblingskinder und Menschen seines ersten Augenmerks, es sind die Armen", sagte Steffensky da. "Sie werden nicht selig gepriesen, weil sie besser sind als andere; nicht, weil sie frömmer, sondern weil sie arm sind. Ihre Schmerzen und Entbehrungen, die gesellschaftliche Verachtung, die sie erfahren, sind der Grund der Seligpreisung; nicht irgendein Verdienst, den sie aufzuweisen haben. Die Frau, die ihr eigenes Kind verletzt, damit es beim Betteln mehr einbringt – sie ist nicht fromm, aber sie ist arm. Der Arbeitslose, den die Hoffnungslosigkeit in den Suff getrieben hat – er ist nicht fromm, aber arm. Die verlorenen und gewalttätigen Jugendlichen, die aus Angst vor der eigenen Armut die noch Ärmeren und die Fremden hassen – sie sind nicht gut, sie sind arm." Und dann noch: "Viele sind zu arm, um gütig zu sein. Sie sind zu arm, um fromm zu sein." Und Steffensky zitierte den ermordeten Jesuit Ignacio Ellacuria: „So müssen wir uns als Kirche fragen: Was haben wir getan, um die Armen ans Kreuz zu bringen? Was tun wir, um sie vom Kreuz abzunehmen? Was tun wir, um sie aufzuerwecken?“ Eine Weise, Gott zu betrachten sei, die Elenden dieser Welt zu betrachten mit den Augen unserer Herzen. "Wenn die Kirche das vergisst," so Steffensky, "dann mag sie religiös sein, aber christlich ist sie nicht."

Zum Pfingstfest hingegen war nun in der FAZ ein Gespräch zwischen dem Feullitonchef Claudius Seidl und Matthias Matusek zu lesen.

"Endlich sagt einer, was Katholizismus wirklich ist: in die Messe und zur Beichte gehen, die Zehn Gebote, das Ritual." Matussek, ein Freund von "heftigen Bekenntnissen", daraus erwuchs das Bedürfnis, ein provokantes Buch zu schreiben: "Ich bin mit Leib und Seele katholisch, ich denke, ich fühle, ich träume katholisch - und ich will nicht in Sack und Asche herumlaufen und mich geißeln dafür. Wenn in den Feuilletons vom Katholizismus die Rede ist, dann geht es in neunzig Prozent der Artikel um Missbrauch, um Skandale, all diese Sachen. Mein Buch war der Versuch, alldem eine Liebeserklärung an meine Kirche entgegenzusetzen."

Das Unangenehme und, ja, Ärgerliche an Matthias Matussek ist, dass er "seine Kirche" als einen einzigen narzistischen Ego-Trip vorstellt: Die Messe, die Zehn Gebote, der Ritus - und ich. Mein Priester in New York. Als sein Gesprächspartner Seidel die "scharze Seite" der katholischen Erziehung anspricht, wischt Matussek die Tafel sofort sauber: "Ich war im Internat. Ich habe jeden Morgen ministriert, ich habe nie Angst gehabt, dass ich in die Hölle kommen könnte." Und: "Ich bin immer gern zur Beichte gegangen, und danach habe ich mich entlastet gefühlt. Dass einem vergeben wird, das ist ein wunderbares Sakrament. Die Psychoanalyse in Kurzform. Das erspart zehn Jahre auf der Couch." Das ist nicht nur inhaltlicher Unsinn. Es zeigt vor allem, dass in Matusseks Vorstellung der katholischen Kirche andere Menschen mit anderen Gedanken oder gar Problemen keinen Platz haben. Kirche ist, wo ich bin. Und das ist auch gut so. Als Seidel von seiner Mutter berichtet, die sich in ihrer Kirchengemeinde engagiert und dem "Regime der alten Männer" vorwirft, von der Praxis keine Ahnung zu haben, fährt Matussek ihm über den Mund: "Ihre Mutter in allen Ehren, aber ich bekomme sehr viel Post von älteren Menschen, die sagen: Endlich spricht einer über die Kirche, wie sie sein sollte." Das Problem haben die anderen. Nein: Probleme machen die anderen.

"Es ist das Merkmal einer erwachsenen Kirche, wenn sie sich von der narzisstischen Selbstbesorgung gelöst hat", hat Steffensky auf dem Kirchentag gesagt. In der Tat. Und manchmal tut es gut zu sehen, dass es da noch andere Vorstellungen von Kirche gibt als die von einem tyrannischen Club von Egoisten.

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