Sonntag, 6. November 2022

Die Tür ist auf, das Land ist weit

Wenn die Erschöpfung groß ist, können Menschen gemeinsam den Traum vom offenen Himmel träumen. Eine Trostrede zum Tod meiner Tante.

Von Peter Otten

Wenn ich nach Bildern von Resi in meinem Kopf suche, dann sind es vor allem solche: Kaffeetrinken mit unseren Eltern. Wie sie mit der Keksdose ankommt und den ersten Spekulatius anbietet und gespannt abwartet, wie wir ihn finden. Runde Geburtstage der Oma bei uns zu Hause. Es gibt Fotos mit den Schwägerinnen, wie sie nebeneinander an der Kaffeetafel sitzen, ins Gespräch vertieft. Es sind Bilder vom Rasten, von Gesprächen, vom Ausruhen. Denn auch Tante Resi war ja ein Teil der Generation unserer Eltern, deren Leben vor allem aus Arbeit und Mühe bestanden hat. Jetzt wo ich selbst älter werde denke ich darüber nach. Meine Eltern habe ich meistens im Modus des Arbeitens erlebt. Es wird euch mit eurer Mutter nicht anders gegangen sein. Vielleicht war das der Kriegsgeneration geschuldet. In der Rückschau habe ich manchmal den Gedanken, unsere Elterngeneration war vor allem deswegen im Modus des Arbeitens, Bauens, Werkelns, Mähens, Säens, Erntens, Hackens und Unkrautzupfens, weil sie als Kinder des Krieges erfahren haben, wie schnell sich alles drehen kann: Wie Krieg und Gewalt Fahrt aufnehmen können.

Aber Tante Resi war ja meine Tante. Tanten und Onkel kommen zu Besuch. Oder wir besuchen sie. Das war ja das Wunderbare an der Welt der Tanten- und Onkelwelt: Sie sorgten für eine Unterbrechung der Geschäftigkeit. Und das markiert den Unterschied zwischen Müttern und Tanten, Vätern und Onkeln: Väter und Mütter sind im Modus des Arbeitens, der Mühe und der Sorge. Onkel und Tanten sind im Modus der Unterbrechung. Verbunden mit Kaffeetrinken und Kuchen essen. Die einen sind im Modus der Mühe. Die anderen im Modus der Geselligkeit.

Und das ist vor allem meine Erinnerung auch an Tante Resi. Ich habe sie eigentlich immer im Modus der Unterbrechung erlebt. Und dafür bin ich dankbar. In Eichhof oder sonst wo am Tisch sitzen zu können bedeutete als Kind immer für einen Moment den Stecker rauszuziehen. Als Kind lauschte ich den Gesprächen. Die Onkel und Tanten sprachen immer im bergischen Dialekt. Mal als seufzendes Bächlein, wenn ein Schicksal beklagt wurde, das jemand in der Nachbarschaft erlitten hatte („Schlemm! Schlemm! Wat kann der einem leeehd dunn!“) Mal als polternder Fluss, wenn die Gedanken durcheinanderstoben. Und doch waren diese Momente immer wie ein Ankek. Für das Kind, das sich den Platz in der Welt noch suchen muss. Ihr habt wahrscheinlich andere Erinnerungen. Muttererinnerungen, Schwestererinnerungen, Schwägerinnenerinnerungen, Freundinnenerinnerungen.

Ich habe meine Tantenerinnerung.

Ausgerechnet jetzt, wo Tanten in der Familie immer seltener werden. Mütterlicherseits muss Tante Maria die Stellung halten. Und sie tut es mit Verve. Wir werden selbst Tanten und Onkel. Die Menschen meiner Generation sind längst eine Stelle nach vorne gerückt. Das Bewusstsein, dass das eigene Leben endlich ist steigt.

Den letzten Teil von Tante Resis Leben habe ich nur noch indirekt mitbekommen. Wenn ich Menschen gefragt habe: Wie geht es ihr? Die letzte Etappe – unfreiwilliger Rückzug. Endloses Ausatmen. Und wenn ein Mensch stirbt – noch dazu die Mutter, noch dazu die Tante (die Oma, die Schwester, die Schwägerin, die Freundin) – wenn dem langen Ausatmen die Stille folgt, dann steigt aus der Stille unweigerlich die Frage auf:

Und jetzt?

Und ich habe mir gedacht: Vielleicht geht es uns gerade wie dem völlig erschöpften Jakob in der Geschichte von eben. Der hat gerade seinen Bruder um das Erstgeburtsrecht betrogen. Esau ist sauer. Und Jakob muss abhauen. Und kommt nach Haran, einen Ort, den wir uns sehr unwirtlich vorstellen dürfen. Und dort angekommen schläft er ein.Wahrscheinlich auch mit der Frage: Und jetzt?

Vielleicht sind wir manchmal so erschöpft wie Jakob, habe ich mir vorgestellt. Wenn wir merken, dass das Leben vorbei geht. Weil wir merken, wir rutschen aus der Position von Sohn und Tochter, von Neffe und Nichte langsam selbst in die Position von Vater und Mutter, Oma und Opa, Onkel und Tante. Weil wir merken, der ferne Krieg wird auf einmal zum unheimlichen Echo. Weil ein Mensch, den wir geliebt haben nicht mehr da ist. Wir haben allen Grund erschöpft zu sein.

Die Antwort auf Jakobs Erschöpfung ist kein Ratgeberbuch. Keine Anleitung zur Selbstoptimierung. Es ist ein zuversichtlicher Anruf. Einer, den ich als Kind immer gut gebrauchen konnte. Und jetzt auch gut gebrauchen kann. Der Anruf ist wie eine Unterbrechung. Ein Tantenmoment sozusagen. Jakob legt sich hin, schläft und träumt. Nicht irgendeinen Traum. Sondern den Traum aller Träume. Er sieht einen offenen Himmel. Und eine Treppe, die in den Himmel ragt. Und Engel, die auf und ab gehen. Und er sieht den Herrn, der freundlich zu ihm spricht: Jakob, es geht weiter. Die Tür ist auf. Das Land ist weit. Geh hinein. Ich bin da. Ich passe auf. Ich bin bei dir. Ich verlasse dich nicht, bis ich mein Versprechen erfüllt habe.

Wie wäre es, wenn die Geschichte von Jakobs Traum in unsere Erschöpfung hinein erzählt wäre? In erster Linie heute in Resis Erschöpfung hinein, am Ende eines langen Lebens mit viel Sorge und Mühe, mit Tanten- und Omaglück, mit einem langen Ausatmen am Schluss? Ist es nicht tröstlich, mit ihr am Ende ihrer Kräfte diesen Traum zu träumen von einem offenen Himmel? Dem Himmel, der wie eine Treppe auf die Erde ragt? Und in dessen Mitte wir mit ihr den Herrn träumen, der sagt: Es geht weiter. Die Tür ist auf. Das Land ist weit. Wie tröstlich ist der Gedanke, wenn dieser Traum auch in meine Müdigkeit hinein geträumt, dieser Satz auch in meine Traurigkeit, in meine Müdigkeit hinein gesprochen wäre: Auch wenn du es in deiner Müdigkeit nicht mehr fühlen kannst, schau, der Himmel ist auf!

Ein frommes Bild? Vielleicht. Aber ich erinnere mich an die vielen Unterbrechungen, die Onkel- und Tantenmomente. Eine Büchse mit Spekulatius, die rumgereicht wird. Kaffeeduft in der Küche. Das gemeinsame Singen. Ein Lichterbaum, der brennt. Krippchen gucken. Die obligatorische Frage, die nie gefehlt hat: „Wie isset dir?“ Alles doch schon Momente, wo der Himmel ein Stück weit offen ist. Der Traum schon ein bisschen beginnt. Und jetzt? Gehen wir mit Resi hinein. Die Tür ist auf. Das Land ist weit.

Gehalten am 4. November in Kürten-Biesfeld

4 Kommentare:

  1. Welch ein trostvolles und liebevolles Bild!! In diesem Zusammenhang gelesen, entbirgt die Geschichte nochmal ganz neue Facetten. Ich nehme das auf in mein Repertoire für Deute-Worte bei meinen Trauerreden.
    Und ich habe ein wenig traurig bemerkt, dass es solche liebevollen Unterbrechungen meines Elternalltages im Grunde nicht gab. Da war zwar der Besuch der Tante... aber fast immer mit Krach zwischen den Schwestern.... ich könnte mal eine neue Geschichte darüber schreiben...
    Danke Dir.

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  2. Ich bin bewegt und angerührt. Tante Resi lebt in dir. Herzliche Grüße ☺️ Maria

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  3. Heule hier gerade, vor Rührung und auch vor eigener Erschöpfung (z.B. beim Älterwerden usw.) Danke für deine doch so tröstlich Gedanken

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  4. Angerührt und bewegt bin ich ebenfalls;)

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