By Hreinn Gudlaugsson (Own work) [CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons |
Von Peter Otten
Als ich das Lied, auf das mich ein Freund aufmerksam
machte mehrmals hörte, dachte ich: es passt wunderbar in die Zeit. In der wie lange nicht mehr Schwarz gegen Weiß, Lüge gegen Wahrheit, Fake gegen News, ich gegen dich, ja gegen nein, die gegen uns abgegrenzt wird. Die Zeit ist irgendwie eine Zeit der scharfen Konturen. Kein Platz für das Dazwischen. Kein Raum für Pastell. Kein Resonanzraum für Zwischentöne. „Wir hatten meist das Herz verloren um zu wissen, wie das geht“ singt Joe Henry. „Das Beste von uns nicht zu vergessen.“
Das Beste von mir. Erst einmal muss ich mich daran erinnern, dass es das gibt: Das Beste von mir – und es ist schön, dass das einer von mir singt. Ich hatte es fast vergessen. Aber was ist das Beste von mir? Ich könnte jetzt alle möglichen Talente aufzählen oder so. However. Joe Henry scheint auf eine andere Fährte zu setzen. Das Beste von dir ist das Vermögen, gnädig auf die Welt zu schauen.
Gnade ist in seltsames antiquiertes Wort, das wir Menschen in unserem Alltag gar nicht mehr so oft benutzen. Ich kenne es aus Ritterfilmen: wenn ein Krieger das Schwert über einem Besiegten schwingt und wo sich in der nächsten Sekunde entscheidet, ob der Sieger seine Macht ausspielt und dem Besiegten das Leben nimmt, der um Gnade fleht. Gnade beinhaltet da immer auch ein Machtgefälle. Da lässt ein Krieger seine Macht fahren. Und indem er seine Macht fahren lässt gerät der Andere in eine Abhängigkeit. Er verdankt dem anderen, dass es ihm wohlergeht. Dass er weiterlebt.
Dabei meint Gnade eigentlich etwas anderes. Gnade ist das Mehr, das jemand gibt, ohne das er es müsste. Ohne Hintergedanken. Aus einem inneren Überschwang heraus, einer positiven Laune, aus einem Gefühl der Zuneigung, der Liebe für das Leben, die Schöpfung, den Anderen. Gnade entspringt einer Haltung der Liebe zum Leben, der Verliebtheit ins Leben, der Zuneigung zu anderen Geschöpfen. Gnade meint: Die Welt ist besser mit dir als ohne dich. Und ich möchte, dass es dir gut geht, dass du gut lebst, dass du alles zum Leben hast, was du brauchst. Ich möchte dein Glück. Völlig unbesehen davon, wer du bist. Im Französischen gibt es den Begriff der gratuité. Er ist nicht so gut zu übersetzen, beschreibt aber noch viel besser als der deutsche Begriff Gnade, um was es geht. Gratuité bedeutet das unverdiente Mehr, das jemand gibt, freilässt, schenkt, in die Tüte packt - nicht um einen anderen zu kaufen oder an ihm seine Macht zu beweisen. Gratuité ist das Mehr ohne Hintergedanken. Es ist das unverdiente Mehr, auf das niemand ein Anrecht hat, sondern das nur einen einzigen Zweck hat, nämlich den, dass es dir wohl ergeht. Dein Wohl macht die Welt zu einem schöneren Ort.
Aber die Welt ist nicht so, weiß Joe Henry. Sie hat ein zorniges Gesicht. Menschen handeln unversöhnt. Einsatz von Wille und Macht bringen nicht automatisch das Recht, auch nicht deine, unsere Freiheit. Automatisch geht hier nichts.
Doch was wäre zu tun? Joe Henry greift zu einem Bild. Er beschreibt ein Liebespaar, das womöglich umschlungen die Straße hinab geht. Beide Liebenden schaffen sich ein Refugium, „a full retreatment“, einen Rückzug, eine Art von Raumkapsel. In gewisser Weise schafft das Zueinander der beiden den beiden eine zurückgezogene, milde Perspektive aufeinander - und dann auch auf die Welt. „Das Schlimmste im Leben sieht wunderschön aus / Und schlüpft davon – aus einem Refugium betrachtet.“ Die Welt ist wunderschön, wenn man sie aus einem Refugium betrachtet. Aus einer Art Raumkaspel heraus, die den Blick schafft dafür, was eigentlich nötig wäre, das Menschen glücklich sein können.
Dieses Lied fragt also nach deinem Refugium, deinem Retreatment, deiner Raumkapsel.
Vielleicht ist es die Raumkapsel des Zueinanders, die Menschen zu dem Überschwang lockt, den auch die Gnade beinhaltet. Das Zueinander, das Geborgensein in einem anderen, die Liebe - vielleicht verführt dieses Retreatment - was immer es ist - Menschen zu diesem Mehr.
Manchmal ist dieses Mehr nicht mehr als das, einmal Fünfe gerade sein zu lassen. Eigene Schwächen oder Schwächen des anderen nicht zu übersehen, aber nicht zum alleinigen Maßstab der eigenen Einstellung zu machen. Manchmal ist es vielleicht das: die Freude am Leben einfach laufen zu lassen, ganz egal wohin.
Dies ist ein Lied, das dazu lockt, das Beste von dir nicht zu vergessen: gnädig auf die Welt, das Leben, auf dich selbst und mich und die anderen zu schauen. Mit einer Haltung der gratuité, des unberechneten Mehr. Mit Großzügigkeit. Mit offenem Blick. Freundlich. Wohlwollend. Milde. Nicht sofort Grenzen zu vermuten und zu sehen, wo erst mal keine sind. Dies ist kein Lied für Bedenkenträger, sondern ein Lied, das von Großzügigkeit singt. Denn auch der Gott, über den Joe Henry singt, auch ihn kann er sich nur großzügig vorstellen, nicht als Kleinkrämer: „Gott weiß, dass wir es gut meinen, auch wenn wir nicht immer wissen wie.“ Selbst wenn es nicht immer klappt. Ist das nicht ein tröstliches, wunderschönes, österliches Bild?
Sing also mit, wenn du kannst: „Ich versuche verliebt dein Licht zu sein. Und bete, es ist genug, im Augenblick.“ Es ist genug. Es ist gratuité. Es ist schlicht das Beste von dir.
https://timeisalion.blogspot.be/2018/03/god-only-knows-in-eyes-of-p-otten.html
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