St. Michael Köln, Brüsseler Platz |
Erik Flügge ist sich mit seiner Diagnose sicher: Depression. Gleich siebenmal teilt er sie seinem Patienten, nicht in einem vertrauensvollen Arztgespräch, sondern mit ganzer Wucht in aller Öffentlichkeit. Der Patient ist wie so häufig bei Flügge die katholische Kirche. Wer eine Diagnose erteilt, sollte auch eine Therapie vorschlagen können. Das kann der junge Politikberater auch. Sein Therapievorschlag: Kirchenabriss und Mitarbeiterkündigung.
Der Staub der unter Protest dem Braunkohleabbau geopferten Immenrather Doms ist noch nicht verweht, da freut sich Erik Flügge schon auf den nächsten Abriss. Denn Kirchen sind „Beton gewordene Depression“. Ein Großteil der Braunkohlegegner, die gegen den Abriss demonstrierten, sind sicherlich keine regelmäßigen Gottesdienstbesucher. Dennoch lag ihnen in die Kirche am Herzen, wie offensichtlich auch der wirtschaftsfreundlichen FAZ, bei der Zerstörung „ungeniert Gleichgültigkeit, Banausentum und Profitstreben herrschen“.
Zu meinen Wirkungsorten zählt die drittgrößte Kirche Kölns. Der neoromanische Kirchenbau von St. Michael ist für die Gottesdienstgemeinde viel zu groß. Meistens reichen die Bänke in der Apsis für die nicht ganz so jungen Gottesdienstbesucher. Daher entwickelten Pfarrgemeinderat und Kirchenvorstände erste Ideen, um den Kirchenraum zu verkleinern. Büro- und Versammlungsräume sollten durch kluge Architektur im großen Kirchenschiff Platz finden. Diese ersten wagen Plänen stellten wir Menschen vor, denen wir sonntags nicht im Gottesdienst begegnen. Wir luden ortssässige Gastronomen, Kreative aus den umliegenden Bürogemeinschaften und Vertreter der Politik samstags morgen in die Kirche ein. Und die zeigten uns die rote Karte: „Die ganze Stadt wird verdichtet – und jetzt fangt ihr auch noch damit an.“ „Wenn ich meine Ruhe haben will, gehe ich hier die Kirche. Hier habe ich kein Handyempfang.“ „Ich freue mich immer über diesen schönen Raum. Ich muß noch nicht einmal Eintritt bezahlen.“ Diese wenigen Statements zeigen, dass ein Kirchenraum offenbar mehr ist als ein Zweckbau für Gottesdienste. Er in einer kommerzialisierten Gesellschaft für viele Menschen ein Ort, der nicht der kurzfristigen Gewinnmaximierung unterworfen ist, sondern einer Ahnung von Heiligkeit Raum gibt. Nicht zuletzt deswegen zahlen sie weiterhin Kirchensteuern.
Die Resonanz auf unsere Umbaupläne war und ist für die Kirchengemeinde Motivation, den Kirchenraum zu erhalten. Und ihn zu nutzen. Zum Beispiel für Art & Amen, einem Projekt mit dem die Kirchengemeinde die Türen dann öffnet, wenn sich im Sommer auf dem Brüsseler Platz hunderte junger Menschen treffen, um unter dem Kirchturm ihre Zeit zu genießen.
Leider kann das Projekt aktuell nicht weitergeführt werden. Der jungen Mitarbeiterin, die drei Jahre lang mit großem Engagement ein Programm für Art & Amen entwickelt hat, konnte kein neuer Arbeitsvertrag angeboten werden. Das Erzbistum stellte keine weiteren Mittel für dieses erfolgreiche Projekt zur Verfügung. Das wird Erik Flügge aber nicht weiter stören. Denn für ihn scheinen "unkündbare Arbeitsverträge" ein Graus zu sein. Es ist schon erstaunlich, dass ein bekennender SPD Anhänger die Errungenschaft von unbefristeten Arbeitsverträgen in Frage stellt und Kündigungen zum erfolgreichen Mitarbeiterführungsinstrument erklärt. Um einen Blick von kirchlicher Realität zu gewinnen, hätte Flügge das in seiner Nachbarschaft liegende kirchliche Jugendcafes aufsuchen können. Dank nicht verlängerter Projektmittel, abgelehnter Förderanträge und nicht bewilligter Mittel aus Fundraisingtöpfen begann für viele gut ausgebildeten Mitarbeiter das Jahr 2018 mit dem Gang zum Arbeitsamt. Die katholische Soziallehre kennen viele Berufsanfänger im kirchlichen Raum höchstens noch aus dem Sozialkundeunterricht, aber nicht mehr von ihren befristeten Arbeitsverträgen. Davon abgesehen: die einzig wirklich unkündbaren Mitarbeiter in der katholischen Kirche sind Priester, also die Leitungskräfte der katholischen Kirche.
Auch im Jahr 1 nach dem Reformationsjubiläum sind Thesen weiterhin attraktiv. Anlass für Flügges Ruckrede sind auch die 10 Thesen des Missionsmanifests, denen er 5 eigene Thesen für ein "echtes Comeback der Kirche" entgegensetzt. Luther hat sich mit seinen 95 Thesen vor allem Gedanken über Gott gemacht und damit eine Reformation angestoßen. Die 10 + 5 Thesen für ein (echtes) Comeback der Kirche halten sich erst gar nicht mit theologischen Inhalten auf, sondern reden in aller Unterschiedlichkeit nur über Kirche. Die beiden Texte würden auch funktionieren, wenn man statt des Begriffs Kirche die Begriffe Siemens, SPD oder Stadt Köln einsetzen würde. Die Augsburger Missionsthesen haben den Sound einer Kabinenansprache von Christoph Daum (Gib alles!), die Thesen Flügges Thesen atmen hingegen den Geist der Agenda-Politik Gerhard Schröders (Fordern & Fördern). Flügges Sympathien für die im Augsburger Gebetshaus geborenen Thesen halten sich in Grenzen. Dennoch wird er schwach angesichts der darin empfohlenen Charaktereigenschaften. „Die Kirche muss wieder wollen, dass Menschen ihr Leben durch eine klare Entscheidung Jesus Christus übergeben.“ Das will ich nicht. Mein missionarischer Tatendrang hört spätestens da auf, wo Totalidentifikation erwartet wird. Daher bin ich auch froh in einem Land zu leben, wo religiöses Eifertum nur für wenige Menschen ein attraktives Lebensmodell ist. Man mag mir jetzt fehlenden Missionseifer vorwerfen. Damit kann ich aber leben.
Begeisterung reicht Flügge natürlich auch nicht. Angesichts der leeren Kirchenbänke setzt er vor allem auf Benchmarketing und formuliert dafür auch ein Ziel. „Thesen für eine Lebendige Kirche sollten in meinen Augen darauf zielen, die lebendige Kirche zu stärken und die dahin siechende Kirche endlich hinter sich zu lassen.“ Stimmt. Ein Warmwasserbecken sollte möglichst viel warmes Wasser enthalten. Ich bin auch kein Freund davon, mangelnde Nachfrage von pastoralen Angeboten mit der Weisheit „Gott schreibt auf krummen Zeilen“ weichzuzeichnen. Einen großen Kirchenraum für 10 Gottesdienstbesucher zu heizen darf nicht die finanziellen Mittel für ein innovatives Kirchenprojekt auffressen. Nicht zustimmen kann ich hingegen Flügges neoliberalen Bürokratiebashing. Wer einmal einen Tag in einem gut geführten Pfarrbüro verbracht hat, weiß wieviel seelsorgliche Kompetenz dort anzutreffen ist. Jede Zentralisierung von Verwaltung geht vor allem auf Kosten der nicht so mobilen Bürger. Das gilt auch für Kirche, die auch zukünftig nicht nur für die Car2Go Nutzer da zu sein hat. Verwaltungsstrukturen sollen Menschen entlasten. Ich weiß, oft genug kommen sie dieser Aufgabe nicht nach – auch in Kirche. Aber Deregulierung kann nicht die Antwort darauf sein. Der französische Soziologe Ehrenberg hat in seinem Buch „Das erschöpfte Selbst“ darauf hingewiesen, dass die gewonnene Eigenverantwortung in einer kapitalistischen Gesellschaft immer auch die Gefahr der Depression birgt. Wer sich nur auf sich selbst zurückgeworfen fühlt, fühlt sich auch schnell überfordert. Eine zuverlässige, überschaubare Infrastruktur, vielleicht sogar mit bekannten freundlichen Gesichtern bietet da Entlastung und bewahrt einem vor der Vorhölle eines anonymen Servicecenters. Vielleicht mag ich deshalb die Begeisterung für das Reformmodell „Abrissbirne und Kündigung“ nicht teilen. Aber auch, weil jede Kirche eine Gesellschaft daran erinnert, nicht alles dem Kosten-Nutzenfaktor zu opfern. Dafür zünde ich gerne eine Kerze in der Kirche an – mag sie noch so leer sein.
Nur eine Kleinigkeit: die 99 Thesen von Luther sind wohl ein Tippfehler. Ansonsten: Danke für die tiefgehende Analyse, mit der ich mich als Evangelischer gut identifizieren kann!
AntwortenLöschenDanke für den Hinweis. Bei den ganzen Thesen kommt man ja ganz durcheinander.
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