Dienstag, 20. Juni 2017

Zwei kreiselnde Kreise


Bruno Laskas Vortragekreuz. Foto: Peter Otten
Mehr Menschen als man denkt werden bestattet, ohne das jemand trauert und zum Grab mitgeht. Was kann man einem Menschen sagen, dem man zum ersten Mal an seinem Grab begegnet? Ein Versuch von heute Morgen.

Von Peter Otten

Wir haben uns nicht gekannt.

Ich weiß Ihren Namen: Martha. Geboren wurden Sie als Martha B. Sie waren verheiratet, aber Ihr Mann ist schon gestorben. Das weiß ich aus dem Formular. Das Formular heißt: Anmeldung einer Bestattung.

Und auch das: Am 30. Oktober 1928 wurden Sie geboren. Das war das Jahr, in dem Erich Maria Remarque seinen Roman „Im Westen nichts Neues“ veröffentlichte. Im Sommer hatten in Amsterdam die IX. Olympischen Spiele der Neuzeit stattgefunden.

Am 7. März dieses Jahres sind Sie gestorben. Eine Woche nach Karneval. Ich weiß nicht, ob Sie einsam waren oder Angst hatten, als der Tod kam. Ich weiß nicht, ob Sie allein waren. Ich wünsche es Ihnen nicht. Ich weiß nicht, ob es jemanden gab, der an Sie dachte. Das wiederum wünsche ich Ihnen sehr.


Von Ihrem Leben weiß ich nichts. Ich weiß nicht, ob Sie ein fröhliches Mädchen waren. Eine selbstbewusste Frau. Ich weiß nicht, ob Sie jemand waren, der das Leben liebte, aber vielleicht auch manchmal schwer am Leben trug. Ich kenne ihr Gesicht nicht. Ich weiß nichts über die Farbe Ihrer Augen oder Ihrer Haare. Ich kenne Ihr Lachen nicht. Ich weiß nicht, ob Sie schlank oder sportlich waren, ob Sie das Tanzen geliebt haben, die Geselligkeit und die Freude an Gemeinschaft mit anderen Menschen. Oder die Literatur, das Lesen. Ich weiß nicht, wie Sie die Kriegsjahre erlebt haben. Ich weiß nicht, um wen Sie in Ihrem Leben getrauert haben. Ich weiß nicht, wen Sie selbst durch Krankheit und Tod begleitet haben.

Unsere Biographien berühren sich nur in diesem Augenblick. Wie zwei Kreise, die nebeneinander kreiseln und sich nur in einem einzigen Punkt berühren: in diesem Moment, wo ich an Ihrem Grab stehe. Ein Moment, der eigentlich nicht intimer, persönlicher sein kann. Zwei kreiselnde Kreise, die sich wieder verlassen.

Wir haben uns nicht gekannt.


Ich glaube daran, dass jeder Mensch eine Zeit verdient hat, an dem die Welt stillsteht und sich nur um diesen einzigen Menschen dreht. Jeder Mensch hat wenigstens eine Viertelstunde verdient. Weil jeder Mensch es verdient hat, dass Menschen sich an ihn erinnern. Und weil heute Morgen nicht die ganze Welt stillstehen kann, werde ich das stellvertretend tun - gemeinsam mit den beiden Totengräbern.

Ich kann nichts weiter tun, als die Hoffnung mitbringen, dass Gott sich an jeden Menschen erinnert. Auch an Sie. Besonders an Sie. Ist das so, ist es Auferstehung.

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