Montag, 28. Dezember 2015

I love myself and I always have

Video Tocotronic, Sreenshot Norbert Bauer
Die SZ bespricht den Kanon der katholischen Popmusik. Und wählt Enya und Papst Franziskus aus. Dabei gibt es so viel gute Musik.

Von Norbert Bauer

„Der Kanon der katholischen Popmusik hat zwei gewichtige Neuveröffentlichungen zu verzeichnen: Alben von Enya und von Papst Franziskus.“ Die SZ hat beide einem „spirituellen Hörtest“ unterzogen und erwartungsgemäß kam der „Sakro und Wellness-Pop“ mit den „pastoralen Synthie-Teppichen“ nicht so gut an. Das mag aber auch schon an der fehlerhaften Versuchsanordnung liegen: Popmusik hört auf Pop zu sein, sobald sie sich spirituell versucht. Jeder Musiker, jede Musikerin, die darauf schielt, dass ihre Musik auf dem Kirchentag läuft, landet mit den Wise Guys in einer Parallelgesellschaft oder beim Zapfenstreich des Bundespräsidenten.

Dabei gab es auch dieses Jahr wieder Popsongs, die dem durch die Indie-Schule gelaufenen Katholiken Trost und Ermutigung schenken und zugleich so gut sind, dass sie jeder Eingemeindung widerstehen.

Wer ein Album The Evangelist nennt, läuft natürlich Gefahr den Programmplanern des Katholikentages aufzufallen. Sobald sie aber merken, dass Robert Forster nicht Lukas oder Johannes sondern sich selbst meint, werden sie die Anfrage stornieren. The Evangelist ist schon sieben Jahre alt. Das aktuelle Album heißt Songs to play und offenbart wieder, was für ein genialer Songwriter Robert Forster ist. Und was für ein Poet. Mit I love myself and I always have gelingt ihm ein Selbsthilfegruppenmottosong, der Anselm Grün nie einfallen würde, aber für den nächsten Monty Python in Frage kommt. Morgens und abends vor dem Spiegel zu singen. Wenn einer sagt ich mag dich du 2015.


Wer ein Album mit der Textzeile Mittlerweile sind all meine Großeltern tot beginnt, muss keine Sorge haben, mit den Toten Hosen auf CDU Parteitagen gespielt zu werden – auch nicht in der Kabine von Jogi Löw. Locas in Love liefern schon seit Jahren einen Soundtrack für den nachdenklichen Alltag. Tagebucheintragungen mit Gitarrenbegleitung. Aber eben auch Protestsongs gegen die Selbstverständlichkeit des Todes. „Andererseits werde ich mich nie daran gewöhnen, dass alles ständig stirbt“, heißt es im erwähnten Song weiter, der auf aktuellen Album der Kölner Band zu hören ist. Wer dieses als CD oder noch besser als LP erwirbt, erhält dazu im entsprechenden Format einen Kalender mit Zeichnungen der Bassistin Stefanie Schrank. Das Lied zum Monat September heißt Gebet: „Herr Jesus leg deine heilenden Hände auf die ganze Welt, bis die Regierung gestürzt ist, die Börse zusammenbricht und das Fernsehen nicht mehr sendet.“ Befreiungstheologie 2015.

Wer sein Album Die Liebe, der Tod, die Stadt, der Fluss nennt, hat wahrscheinlich das Gesamtwerk von Reiner Werner Fassbinder im Regal stehen und ist damit auch nicht kirchentagstauglich. Aber immerhin Domradio kompatibel. „Wir sind nicht mehr jung, wir sind vielleicht sogar alt“ beginnt Eric Pfeil seinen Song Himmelwärts (nicht verwechseln). Eric Pfeil meint, er habe ein „düsteres Indie-Liedermacher-Konzept-Album“ aufgenommen, dabei wird bei ihm sogar der triste November zum Hoffnungsmonat. Memento mori 2015.

Wer sein Album Sometimes I Sit and Think, and Sometimes I Just Sit nennt wird, wird vielleicht in den Ashram Jesu eingeladen. Aber dort wenn man bald feststellen, dass die Gitarre von Courtney Barnett zu laut ist. Auf jeden Fall bei Kim’s Caravan, einem Song mit der typischen Psalm-Dialektik: von der Klage zur Dankbarkeit, bei der australischen Sängerin sogar durchgegendert: „Am Anfang des Songs, bin ich sehr desillusioniert und da erscheint mir Jesus, und er ist ein angriffslustiger Mann. Der Song entwickelt sich jedoch dahin, dass ich merke, dass ich dankbar sein muss, für das, was ich habe. Irgendwie fühlten sich diese Einsicht und Dankbarkeit sehr weiblich, sehr sinnlich an. Also habe ich mich entschieden: ‚Ja, Jesus ist eine Frau!’“ Feministische Theologie 2015.

Wer sein Album nach den Namen seiner Eltern Carrie & Lowell nennt und Lieder schreibt, die das Mutter Sohn Verhältnis als nicht gerade vorbildhaft besingen und obendrein noch keinen Hehl daraus macht, Christ zu sein, hat eigentlich den Misserfolg schon vorprogrammiert. Aber Sufjan Stevens landet 2015 bei allen relevanten Jahreslisten in den Top 10. Er untergräbt das Stigma des christlichen Musikers, weil er sich beim Musikmachen mehr auf die Kunst als auf das Evangelium konzentriert. Carrie & Lowell ist eine Abrechnung mit seiner verstorbenen Mutter, ein Album voller Schmerz und Wehmut, die vor allem durch die Texte zum Ausdruck kommen, nicht durch die Musik, die mit luftig gezupfter Gitarre beinahe Lagerfeueratmosphäre verbreitet. Aber gerade mit der Mischung aus düsteren Worten und leichten Musik gelingt ihm was ganz besonderes: Versöhnung. Soteriologie 2015.

Wer sein Album Das rote Album nennt und am 1. Mai veröffentlicht, betreibt Kapitalismuskritik weiterhin als subversive Affirmation, denn die einzige Möglichkeit das Produkt von Tocotronic am arbeitsfreien Tag der Arbeit zu erwerben, war der international agierende MP3 Handel. Egal. Wer weiterhin Songs wie Solidarität schreibt, darf das. Anstatt Jahr der Barmherzigkeit 2015.



TOP 10 2015

Robert Forster – Songs to play

Courtney Barnett - Sometimes I Sit and Think, and Sometimes I Just Sit

Eric Pfeil - Die Liebe, der Tod, die Stadt, der Fluss

Locas in Love – Kalender

JamieXX – In Colour

Bob Dylan - Shadow in the Nights

Sufjan Stevens – Carrie & Lowell

Tocotronic – Das rote Album

SoKo – My Dreams dictate my reality

Ariell Sharett & Mathias Korn – Don’t believe the hyerreal

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