Foto: Felicitas Serve |
Von Peter Otten
Es ist merkwürdig, heute hier in der Kirche St. Gertrud zu stehen und eine Katechese zu halten. Es ist merkwürdig - ein anderer Ausdruck fällt mir nicht ein - es an diesem Tag zu tun, an dem wir daran erinnern, dass diese Kirche vor 50 Jahren geweiht worden ist. Sicher waren einige von Ihnen damals dabei, oder sie erinnern sich daran, wie anderen Ihnen davon berichtet haben.
Wie mag es wohl gewesen sein, damals? Wie war der Tag? Wie war das Wetter? Sicherlich war die Kirche brechend voll. Bestimmt war sie geschmückt – mit Blumen, Kerzen und Fahnen. Gewiss war es feierlich, die kleine Orgel hat gebraust und gegeben, was sie konnte. Bestimmt sang ein Chor, bestimmt war eine große Schar Ministranten dabei. Und bestimmt haben sich alle gefreut und waren aufgeregt und zuversichtlich. Eine neue Kirche mitten in einer Häuserzeile in der Krefelder Straße. Eine ungewöhnliche aufregende Architektur, weit entfernt von der lange Jahrzehnte vorherrschenden historisierenden Neogotik. Ein harter Kontrast zur epochalen Größe von St. Agnes. Mittendrin sollte die Kirche stehen, nicht nur dabei. Eigentlich ein waghalsiger, mutiger, neuartiger Gedanke. Natürlich: Das Konzil war gerade zu Ende gegangen. Mit all den neuen Gedanken: Kirche sollte Kirche in der Welt zu sein, ja noch mehr: die Welt, die anderen Menschen, auch die nichtchristlichen Menschen, die Agnostiker, Menschen anderer Religionen sollten von nun an Orte sein, in der Gott auch lebendig und erfahrbar wird, wie es im wohl berühmtesten Wort des Konzils heißt:
„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände (GS 1).“
Ein Bild, was in diesen Tagen wieder eine Art Reprise erfährt, wenn der Papst sagt: Geht an die Ränder. Dann sagt er ja auch: Geht in dieKrefelder Straße. Und zu den Hirten: Riecht wie die Schafe riechen. Dann bedeutet das ja auch: Riecht wie die Menschen in der Krefelder Straße. In dieser Kirche kann man es besichtigen: Sie ist eine Kirche am Rand, mitten in der Krefelder Straße, wo alle möglichen Menschen wohnen, zwischen Büdchen, Kneipen und Restaurants aus aller Welt. Der Geruch der Straße ist auch der Geruch in dieser Kirche. Der Beton der Gehsteige und der Häuser ist auch der Beton dieser Kirche. Das Dunkle, Zwiespältige, das wir auf der Straße finden ist auch das Dunkle und Zwiespältige in dieser Kirche.
Wie wäre es wohl gewesen, hätten die Menschen von St. Gertrud im Jahre 1965 mit einem langen Fernrohr bis ins Jahr 2015 schauen können, bis hinein in diesen heutigen Tag, wo sich eine kleine Gruppe von Menschen an diesen Tag erinnert? Wo die Kirche schon lange nicht mehr im Regelbetrieb läuft? Wo nur noch wenige Gottesdienste gefeiert werden? Wo sich so vieles verändert hat? In der Gesellschaft, in unserer Stadt, in der Krefelder Straße, aber auch in unserer Kirche. Hätten sie einen Schreck bekommen und gesagt: Was haben wir da denn gemacht? Was für ein sinnloses Unternehmen! Denn auch diese Kirche hat die Anmutung, als sei sie für die Ewigkeit gebaut. Die Tonnen an Eisen, die in diesem Beton verarbeitet sind, geben dem Bau eine Aura von Unvergänglichkeit. Ist das noch zeitgemäß? Oder ist das Wahnsinn? „Euer Reichtum verfault, und eure Kleider werden von Motten zerfressen. Euer Gold und Silber verrostet…“ haben wir gerade in der Lesung gehört. Gilt das etwa auch für diese Kirche nach 50 Jahren?
Ich habe lange in Höhenberg/Vingst gearbeitet, wo ironischerweise vor dreizehn Jahren zum vorletzten Mal in diesem Bistum eine Kirche geweiht wurde. Auch eine Böhm-Kirche, gebaut von Gottfried Böhms Sohn Paul. Es gibt interessante Parallelen zwischen beiden Gebäuden. Es gibt auch deutliche Unterschiede. Beiden Kirchen gleich ist, dass sie den Besucher sehr stark mit sich selbst konfrontieren, ihn auf sich selbst zurück werfen. In St. Theodor ist das noch mehr radikalisiert: Dort gibt es beispielsweise gar keine farbigen Kirchenfenster mehr, die den Besucher leiten. St. Theodor besteht nur noch aus Form – nämlich Kreis und Tangente – und Material, vor allem Beton, Glas und Holz. Es ist ein anspruchsvoller Bau, weil seine Nüchternheit dafür sorgt, dass der Mensch nicht untergeht in Farbigkeit und Gold und Glanz. Dadurch wird sie aber mehr denn je zum Gefäß für diejenigen, die sie betreten. Für sie und ihre Geschichten, Gedanken, Biographien. Sie spielt sich in gewisser Weise in den Hintergrund: in St. Theodor dadurch, dass das Kirchengebäude von oben aus betrachtet den griechischen Buchstaben „Omega“ bildet – also das Ende von allem. Eine ironische Anmerkung des Architekten, der sein eigenes Werk relativiert, obgleich oder gerade weil es aus Beton ist. Das, was sie ausdrückt ist größer. Einen ähnlichen Gedanken finden wir auch hier: Blicken wir nach oben, ahnen wir die Konturen eines Zeltes – einer Behausung also der Vorläufigkeit, des Unterwegsseins, des Prekären auch – aber auch der Mobilität und Beweglichkeit und Spontanität. Also auch hier ein ironisches Spiel des Architekten mit dem Gebäude und seiner Bedeutung, ein ironisches Spiel mit dem starren, steifen und harten Baustoff Beton.
Was soll das also? Könnten die Menschen von vor 50 Jahren gefragt haben, hätten sie damals schon gewusst, dass St. Gertrud lange schon keine selbstständige Pfarrei mehr ist, dass es hier oft still ist. Was sollte das? Könnten wir heute aus denselben Gründen unsere Vorfahren fragen. Was habt ihr euch dabei gedacht? Habt ihr nicht geahnt, dass alles weniger wird?
Diese Frage ist müßig. Und das ist auch gut so. Und das hat mit dem Phänomen von Religiosität selbst zu tun.
Religion ist aus mindestens aus zwei Gründen wichtig: Erstens: Religiosität handelt vom Überfluss. Denn religiöse Menschen bezeugen hier bereits einen Gott, der nicht nur größer und anders und herrlicher ist als alles, was Menschen sich vorstellen können. Unser Glaube bezeugt auch die Überwältigung eines Gottes, der alles zu einem guten Ende bringt. Daher auch der Überfluss in seinen Zeichen und Sakramenten: Brot und Wein, Öl und Wasser, Ästhetik und Schönheit. Das Religiöse steht also eben nicht für die Frage: Was soll das? Sondern für unser hoffendes Zeugnis: So ist es! Das Heil ist Überfluss. Und deswegen öffnet der Glaube in seinen ästhetischen Ausdrücken eben zweitens Räume für alles, was keiner Funktion, keinem Zweck unterliegt. Und Kirchenarchitektur hat dann keine Funktion, hier spielen ökonomische, soziale Formen keine Rolle. Hier wird nichts gekauft. Hier wird nichts gehandelt. Hier wird niemand eingesperrt. Ein Kirchraum ist einfach da. Seine Funktion ist seine Funktionslosigkeit, seine Zweckfreiheit. Er ist die Hülle dafür, dass Menschen ihre eigene Freiheit ahnen, die ja oft so schwer zu leben ist und ihr einen Raum zu geben. Ich glaube, das ist der Grund, warum so viele Künstlerinnen und Künstler diesen Raum so spannend und anregend finden, weil sie genau das spüren.
Was das genauer meint – dafür legt das heutige Evangelium eine Spur. Die Jünger verpetzen einen Menschen bei Jesus, der ein Wunder – unerwartet etwas Gutes - getan hat. Wie kann so jemand Missfallen erregen? Die Begründung der Jünger: er folgt uns nicht nach. Er ist nicht so wie wir, er gehört nicht zu unserer institutionellen Form, unserer Tradition – so könnten wir übersetzen. Aber für Jesus ist das einerlei. Für ihn ist seine Haltung entscheidend. „Wer nicht gegen uns ist, der ist für uns.“ Nicht die Funktion, nicht das System ist wichtig, sondern die Haltung des Menschen. „Keiner, der in meinem Namen Wunder tut, kann so leicht schlecht von mir reden.“ Es kommt also darauf an, in seinem Namen Wunder, das Unerwartete zu tun. Die Haltung ist entscheidend, nicht das Funktionale, Institutionelle. Und weil ihm das so wichtig ist, wird Jesus rabiat: Er schwört seine Jünger darauf ein, nicht die Kleinen, also diejenigen, die noch klein und unsicher im Glauben sind - also, die in St. Gertrud auf der Schwelle stehen bleiben, oder die Passanten auf der Krefelder Straße - auf diese Weise zu verführen: Es gibt keine Institution, die das Reich Gottes verwaltet und über Zutritt und Abwehr entscheidet. Es ist die Haltung von Menschen, die in seinem Namen Wunder tun entscheidend dafür, dass das Reich Gottes beginnt.
Auf diese Haltung, auf diese zweckfreie Offenheit weist auch diese Architektur hin. Wenn es einen Sinn für Kirchen gibt, dann diesen. Der Bau ist die Hülle dafür. Sein einziger Sinn ist, dass in seiner Hülle Wunder geschehen können, dass Menschen sie in Jesu Namen tun können und nicht daran gehindert werden. „Was bewegt die Menschen bei uns?“ fragt der Theologe Bernhard Spielberg. „Wenn die Kirche sich auf diese Frage einlässt, ist sie relevant. Wenn nicht, wird sie zum Museum“. Nach 50 Jahren ist St. Gertrud anders geworden. Aber sie ist kein Museum. Und sie ist noch da. Und das ist ein Grund zur Freude.
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