Montag, 2. Dezember 2013

Steh auf, Mädchen!

Rudolpho Duba / pixelio.de
Trost ist vielleicht die wichtigste Eigenschaft von Religion. Eine Trauerrede.

Von Peter Otten

Man kann vieles richtig machen, wenn ein Mensch gestorben ist, der für einen die Welt bedeutet hat. Das wichtigste aber ist wahrscheinlich, einander zu trösten. Vielleicht ist Trost sogar das sogar die wichtigste Aufgabe, oder besser: Eigenschaft von Religion. Trösten, nicht vertrösten. Im Wort „Trost“ steckt übrigens der germanische Wortstamm „treu“. Im Englischen, im Wort "trust" wird es ganz deutlich, worum es beim Trösten geht: Ich bleibe an deiner Seite, wenn es darauf ankommt. Ich bleibe dir treu in deinem Schmerz und in deiner Trauer. Ich gehe nicht weg.

Trost spenden können somit auch die Geschichten aus der Bibel. Zwei davon haben wir gehört. Ich möchte euch versuchen zu erzählen, wie sie uns trösten können. Trösten kann uns aber auch die Verstorbene selber: nämlich durch das, was sie hinterlassen hat. Davon erzählen uns gleich zwei Familienmitglieder.

Doch nun zu den biblischen Bildern:

Als ich die Verstorbene das zweite Mal im Krankenhaus besucht habe, fragte ich sie: Gibt es eine Geschichte in der Bibel, die dir viel bedeutet hat? Sie zögerte nicht lange und erzählte von diesem Stück aus dem Evangelium, das wir gerade gehört haben (Mk 5, 21-24; 35-42): dem kleinen Mädchen, das gestorben ist und ihrem Vater Jairus, der zu Jesus läuft und einfach Hilfe holt. Und ich fragte sie: Was ist es, was dir an dieser Geschichte gut gefällt? Sie sagte: Es ist, wie Jesus zu dem Kind sagt: Mädchen, steh doch auf! Es klingt ein bisschen wie als wenn Jesus sagten würde: Lass dich nicht so hängen! Leider sind wir nicht mehr dazu gekommen, über diese Geschichte tiefer zu sprechen. Dazu hat die Zeit nicht mehr gereicht. Aber ich habe viel über ihren Satz nachgedacht:

"Es klingt, als wenn Jesus sagen würde: Lass dich nicht so hängen."


Ich habe, als ich das Krankenhaus verließ gedacht: Wahrscheinlich war die Verstorbene ein Mensch, der es nicht leiden konnte sich hängen zu lassen. Ihr gefiel es, die Dinge in die Hand zu nehmen, Sachen anzupacken, sich für etwas zu entscheiden und dann loszulegen: Das Haus. Die Familie. Die Gemeinde. Das große Netzwerk, in das sie eingebunden war und das sie maßgeblich mitgeprägt hat. Der Garten. Und auch ihre Krankheit. Ihr Schwiegersohn hat am Sonntag noch von ihrer Reise nach Borkum in diesem Sommer erzählt: Wie sie sich auch äußerlich verändert hat, wie sie einen farbigen Schal trug wie ein Symbol dafür, dass sie nichts anderes wollte als leben. Und vermutlich fiel es ihr schwer zu ertragen, dass ihre Kräfte nachlassen. Nur nicht hängen lassen, mag sie gedacht haben. Nicht hängen lassen. Nicht kraftlos werden. Lieber immer wieder das Mädchen sein, jung sein und ins Leben hineinwachsen. Und zu dem Jesus sagt: Talita kum! Steh auf, Mädchen! Und dann aufstehen, unverzüglich aufstehen. Vielleicht war es das, was die Verstorbene an dieser Geschichte fasziniert hat: Dass sie tatsächlich oft  in ihrem Lebengespürt hat, wie da einer kommt, als es schwer wird und zu ihr sagt: Talita kum! Steh auf Mädchen! Steh doch auf…! Nicht hängen lassen. Und im Krankenhaus zuletzt doch zu spüren: Lieber Gott, es reicht nicht mehr… dein Talita kum. Jetzt reicht es nicht mehr.

In der Geschichte sind es die Leute des Jairus, des Synagogenvorstehers, die eigentlich von der Sache mit der Religion, die vor allem doch auch die Sache mit der Trost ist etwas verstehen müssten und die doch zu Jairus sagen: Lass doch Jesus in Ruhe! Geh ihm doch nicht auf die Nerven! Es ist doch zu spät! Das Mädchen schafft es nicht. Sie ist tot! Finde dich damit ab!

Und was macht Jesus? Er sagt zu Jairus: Sei ohne Furcht! Glaube nur! Und er nimmt nur die engsten Begleiter mit in das Zimmer, die Eltern auch. Die Besserwisser, die mit lautem Reden ihre Angst übertünchen – die müssen draußen bleiben. Die, die ihre Furcht, ihre Angst und ihren Zweifel nicht ignorieren – aber doch auf das Wort desjenigen vertrauen, der da sagt: Sei ohne Furcht. Ich bin treu. Die gehen mit rein. Und dann sagt der so etwas ungeheuerliches wie: Talita kum! Mädchen, steh auf! Und das Mädchen steht auf, unverzüglich, heißt es, und es geht umher.

Die Geschichte von dem Mädchen, das wieder aufsteht ist aus der nachösterlichen Perspektive geschrieben. Die jungen Christen haben daran geglaubt, dass Jesus auferstanden ist. Doch was bedeutet das, auferstehen? Und vor allem: daran zu glauben? Es ist so leicht dahergesagt. Es bedeutet wohl nichts anderes, als viele „Talita-kum-Geschichten“ zu erleben, dass da also, wenn es darauf ankommt Menschen kommen und sagen: Talita kum! Steh auf, Mädchen! Lass dich nicht hängen. So wie heute morgen hier im Gottesdienst, wo ihr alle da seid, weil ihr ahnt, jetzt kommt es darauf an. Das hat die Verstorbene gespürt, glaube ich. Und aus dieser Kraft hat sie gelebt. Und mit dieser Kraft konnte sie auch sterben. Weil sie gespürt hat, dass da auch da jemand zu ihr sagen wird: Talita kum! Steh auf, Mädchen!

Das ist das erste Bild, das ich euch heute mitgeben möchte: Es geht nicht darum, unsere Angst vor dem Tod zu verdrängen. Unseren Zweifel. Unsere Furcht. Unsere Trauer. Unseren Schmerz. Aber wir können all das überwinden, indem wir das tun, was die Verstorbene tat und dem sie sehr vertraut hat und aus dessen Kraft sie gelebt hat und das sie uns hinterlassen hat: Dass da einer ist, der sagt: Talita kum! Steh auf! Steh auf, Mädchen! Du schaffst das. Und wie oft haben wir, habt ihr euch gegenseitig in den letzten Tagen gesagt, als ihr euch gegenseitig aufgerichtet habt: Talita kum! Steh auf, Vater, Bruder, Schwester. Und in diesen Momenten hat Auferstehung schon angefangen.

Das zweite Bild, die Geschichte der Lesung (Off 7, 9 - 17) stammt aus dem schwierig zu verstehenden Buch Offenbarung des Johannes. Es ist deswegen schwierig zu verstehen, weil das Buch von etwas erzählt, was niemand bisher gesehen hat. Daher schreibt Johannes auch keine Reportage. Mir gefällt der Ausdruck „sich etwas ausmalen“ ganz gut. Darum geht’s ihm wohl eher: Er malt den LeserInnen aus, wie das sein könnte, wenn das Reich Gottes da ist. Also das, was wir nicht schon haben, worauf wir aber hoffen dürfen, weil wir Bruchstücke schon kennen, nämlich Stellen, Zeiten und Orte, wo es bereits begonnen hat: Wenn zwei Menschen sich versöhnen. Wenn eine gute Idee Früchte trägt. Wenn eine Gemeinschaft ein wirkliches Netzwerk ist, das Menschen trägt. Wenn da jemand sagt: Talita kum, steh auf.

Aber: Diese Orte und Zeiten sind wie der Krümel von einem Kuchen: Man ahnt, wie die ganze Torte schmecken wird. Wir wissen es aber nicht. Und wir dürfen darauf hoffen, dass wir irgendwann mal von der fertigen zehnstöckigen Torte essen dürfen. Wäre Johannes ein Konditor gewesen, dann hätte er vielleicht dieses Bild gewählt. Aber weil er wohl ein Gottesdienst-Fan war, glaubt er, im Paradies ist es so toll, dass alle Menschen ewig Gottedienst feiern.

Wir leben nicht mehr im 1. Jahrhundert im römischen Weltreich, in dem Johannes seine Offenbarung schreibt. In dem Menschen bedrängt und Christen gequält wurden, weil es plötzlich den Kaiserkult betonte und die Gemeinden unterdrückte. Weil es Sklavenarbeit und andere Ungeheuerlichkeiten kannte. Aber trotzdem dürfen wir den Text hören, als sei er in unsere Zeit hineingeschrieben. Denn auch unsere Zeit kennt viele Bedrängungen: Freundschaften, die scheitern; Aufgaben, die überfordern; Erwartungen, die unerfüllbar sind oder Krankheiten, die wie aus dem Nichts auftauchen. Menschen, die krank werden, und keiner weiß, warum, und die dann sterben, und wir denken: warum um Himmels Willen? Und wieder andere Menschen traurig zurück lassen.Was jedenfalls entscheidend ist: Auch wir sind gemeint, wenn Johannes von den Bedrängten erzählt. Auch wir mischen uns unter die Völkerstämme, von denen Johannes sagt, dass sie von überall her kommen. Auch wir haben die weißen Gewänder übergezogen und wedeln mit dem Palmzweig, dem Zeichen des Sieges. Und dann wird sein Bild ganz handfest und konkret: Keinen Hunger und keinen Durst mehr für niemanden, keine Hitze und Sonnenglut – und Gott wird alle zu den Lebenswasserquellen führen, wo alle ausruhen dürfen.

Jetzt mal ehrlich: Ist das nicht wirklich das Paradies? Und, mal ehrlich: Wenn Gott ein gerechter Gott ist: Muss es dann nicht irgendwann auch so kommen? Dass der, der Zeit seines Lebens Hunger hatte - und nichts dafür konnte - endlich satt wird? Dass diejenige, die krank wurde - und wofür niemand eine Erklärung hatte - gesund wird? Weil einfach jemand da ist und sagt: Talita kum! Steh auf! Mädchen, es ist Zeit!

Sucht euch eins der beiden Bilder aus und nehmt es mit nach Hause, wenn ihr könnt. Reiht euch ein in die Menge derer, von denen es heißt, sie lassen ihre Bedrängungen hinter sich. Es sind auch eure Bedrängungen. Und spürt die Kraft, die auch die Verstorbene gespürt, aus der sie gelebt hat, und mit der siesterben konnte, als da jemand zu ihr sagte, wieder und wieder: Talita kum! Steh auf, Mädchen. Lass dich nicht hängen. Es gibt keinen Grund. Denn ich werde auch deine Tränen trocknen, wie ich sie alle trocknen werde, wieder und wieder – und dann - wenn es Zeit ist - für immer.

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