Montag, 16. April 2012

Die Chance des Glaubens ist die Vielfalt der Erzählungen

Foto: Peter Otten
Vielleicht täte es der römisch katholischen Kirche gut, wenn nicht immer wieder die Einheit gefordert würde, sondern vielmehr die Pluralität, die Vielfalt. Die Bibel jedenfalls kann in ihrer Vielfalt, in ihrer Widersprüchlichkeit ein Vorbild sein. Norbert Bauer, Pastoralreferent in der katholischen Pfarrgemeinde in St. Agnes betrachtet die Unterschiedlichkeit biblischer Erzählungen - zum Beispiel in den Passionsberichten -als Herausforderung und Ermutigung für den Glauben.

Eine Karfreitagspredigt.

Von Norbert Bauer

 „Ich beneide alle, die an Gott glauben. Das würde ich wirklich gerne können. Leider schaffe ich es aber nicht. Ich brauche Beweise. Ich würde gerne wissen, ob die Zehn Gebote wirklich von Gott kommen oder ob der Moses sich die selbst ausgedacht hat.“ An dieser Aussage des Schauspielers Christian Ulmen, die diese Woche in der Zeitschrift "Chrismon" zu lesen ist, ist für mich eins besonders auffallend: Da will jemand an Gott glauben, kann es aber nicht, weil die Bibel für ihn nicht genügend Beweiskraft besitzt. Für viele Menschen steht und fällt der Glaube an Gott mit der Glaubwürdigkeit der Bibel. Für den Schauspieler Christian Ulmen ist die Frage nach den Zehn Geboten bedrängend, für eine Schülerin eines Kölner Gymnasiums, der ich vor kurzem bei einem Unterrichtsbesuch begegnete, war es die Frage nach Adam und Eva. Für sie war die Alternative klar: Stimmt die Erzählung von Adam und Eva so nicht, dann existiert auch Gott nicht. Ich könnte Ihnen noch von weiteren Gesprächen und Biographien erzählen, von Menschen, deren Glaube an Gott angesichts der zahlreichen Widersprüche und Fragwürdigkeiten der Bibel ins Stolpern geriet. Und Sie werden, ebenso wie ich, angesichts der biblischen Ungenauigkeiten ab und zu ins Nachdenken kommen.
Ich spreche heute am Karfreitag darüber, weil mir besonders an den Texten zum Sterben Jesu eine Widersprüchlichkeit auffällt. Ein offensichtliches Beispiel haben wir eben in der Passionsgeschichte nach Johannes gehört: „Als Jesus von dem Essig genommen hatte, sprach er: Es ist vollbracht!“ Am Palmsonntag wird ebenfalls die Passionsgeschichte vorgelesen, jedoch aus dem Lukasevangelium. Dort lauten die letzen Worte Jesu am Kreuz „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“Jeder halbwegs aufmerksame Zuhörer wird sich fragen müssen. Was stimmt denn jetzt? Was hat Jesus nun als Letztes gesagt? Um die Verwirrung zu vergrößern, können wir noch die Version des Mk bzw. Mt Evangeliums hinzunehmen, denn dort finden wir noch eine weitere Variante: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Das Dilemma, dass uns in den vier Evangelien drei unterschiedliche Sterbeworte Jesu begegnen, können wir nicht auflösen. Auch eine historisch-kritische Exegese, die uns viele wichtige Erkenntnisse liefert, wird nicht mehr rekonstruieren können, was die letzten Worte Jesu wirklich waren. Sogar der Papst legt sich in seinem Jesus- Buch nicht fest, was nun das „Letzte Wort“ war. Wir können es nicht wissen. Viele werten diese Widersprüchlichkeit als Beweis, dass die Bibel nicht stimmen kann.

Die Widersprüchlichkeit biblischer Erzählungen ist eine Herausforderung

Vielleicht können wir dies aber auch anders sehen, vielleicht sind die differierenden Textfassungen auch eine Chance? Vielleicht ist genau das, was viele als Makel der Bibel sehen, ihre Qualität? Z.B. beim Sterbewort Jesu: So fragt sich der Mainzer Theologe Thomas Hieke „Ist es nicht faszinierend, dass wir verschiedene Zeugnisse über das Sterbewort Jesu haben, wenn man sich überlegt, wie unterschiedlich Menschen dem Tod begegnen.“ Manche Menschen sterben in großer Verzweiflung, in großer Unruhe, manche Menschen schlafen friedlich und erfüllt ein, manche Menschen legen im Tod ihr Leben mit großem Vertrauen in die Hände Gottes. „Allen ist Jesus mit seinem Sterbemoment nahe.“ Wenn wir wirklich davon ausgehen, dass wir in der Bibel Gottes Wort in Menschenwort vorfinden, können wir diese Unterschiedlichkeit, ja die Widersprüchlichkeit auch positiv wahrnehmen, nicht als Dokument menschlicher Fehlerhaftigkeit, sondern als gottgewollte Chance und Herausforderung. Worin besteht der Erkenntnisgewinn in der teilweise offensichtlichen Widersprüchlichkeit der biblischen Überlieferungen? Vielleicht wird dies plausibel, wenn wir bedenken, dass Geschichtsschreibung nie nur Rekonstruktion von Vergangenheit ist. „Geschichtserinnerungen dienen der Erfahrungsstrukturierung, der Handlungsorientierung und der Identitätsstiftung“, so die Würzburger Exegetin Barbara Schmitz Jede historische Arbeit, sei es die biblische, sei es die gesellschaftliche, hilft uns nicht nur, das Vergangene besser zu verstehen, sondern auch uns heute besser zu erkennen und uns besser zu orientieren. Dies war auch in den Zeiten so, als die Evangelien verfasst wurden, also zum Ende des 1. JH n. Chr. Sie entstanden zu unterschiedlichen Zeiten und dienten den unterschiedlichsten Gemeinden als Grundlage ihres Wirkens. Viele Gemeinden kannten zunächst nur ein Evangelium. Ganz verkürzt kann man sagen, dass zuvor für die Gemeinden in Klein-Asien vor allem das Johannes-Evangelium bestimmend war, für die Gemeinde in Rom hingegen das Markus-Evangelium. Es ist bis heute für die Forscher ein Rätsel, wie sich die Kirche in der darauf folgenden Zeit darauf verständigt hat, dass diese vier Evangelien in der ganzen Kirche Anerkennung gefunden haben und um ca 180 n. Chr als Sammlung vorlagen.
Eine Beobachtung finde ich bei dieser Entwicklung wirklich auffallend: Bei der Zusammenstellung der vier Evangelien wurde die Unterschiedlichkeit aufrechterhalten. Wenn der Prozess heute erneut anstünde, würde es wahrscheinlich anders aussehen. Es würde eine Expertenkommission eingesetzt, die ein Kompromisspapier erstellen würde, wahrscheinlich mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner, und am Ende würde ein harmonisiertes Einheitsevangelium stehen, in dem vielleicht keine „Fehler“ mehr wären, bei dem aber viele Besonderheiten und Kleinigkeiten unter den Tisch gefallen wären. Es wäre viel verloren gegangen. Um es für die Texte des heutigen Karfreitags zu formulieren: Es wäre doch wirklich schade, wenn nur ein Sterbewort Jesu überliefert wäre, und dadurch der Eindruck entsteht: Nur wer beim letzten Atemzug verzweifelt ist, stirbt „richtig“, oder nur der, der voller Vertrauen und gottergeben stirbt. Aber auch über diese vier konkreten Bibelstellen hinaus, entdecke ich in der Tatsache, dass die Evangelien in ihrer Unterschiedlichkeit nebeneinander gestellt wurden, für uns heute eine Orientierung. Die Kanonbildung diente um das 2. Jahrhundert dazu, dass die im Mittelmeerraum verstreuten Gemeinden eine Identität als eine Kirche entwickeln konnten.

Die Vielfalt der Bibel als Vorbild der Pluralität des Glaubens

Wir haben vor Ort heute den Auftrag als Pfarrgemeinde St. Agnes mit vier Kirchen eine Einheit zu bilden. Vielleicht gelingt die Einheit besser, wenn wir die Unterschiedlichkeit der vier Kirchen aufrechterhalten, und vielleicht täte es unserer römisch katholischen Kirche auch gut, wenn nicht immer wieder die Einheit gefordert würde sondern vielmehr die Pluralität, die Vielfalt. Unsere Bibel, die Grundlage unseres Glaubens, kann uns in ihrer Vielfalt, ja gar in ihrer Widersprüchlichkeit darin Vorbild sein. Die Kunst hat diese Offenheit schon immer genutzt. Allein in unserer Agnes-Kirche können Sie die unterschiedlichsten Kreuzesdarstellungen sehen. Keine wird für sich in Anspruch nehmen können, den Tod Jesu wirklich zu dokumentieren. Und jede Kreuzesdarstellung sagt ebenso viel über den Künstler aus als wie über die unterschiedlichsten Aspekte des Todes Jesu. Und jeder von Ihnen hat vielleicht ein persönliches Lieblingskreuz. Bei der Kreuzverehrung werden wir, allein schon aus praktischen Gründen, nur ein Kreuz nutzen: Aber seien Sie trotzdem eingeladen, mit Ihrem ganz persönlichen Anliegen vor Ihren Jesus zu treten.

3 Kommentare:

  1. Danke für den wertvollen Impuls!
    Nach einer zweiten Zusammenlegung von Seelsorgebereichen sind wir seitens des Teams - scheinbar rein als Reaktion auf die Anforderung des Augenblicks, aber noch ohne reflektierte Konzeptionierung - ganz ähnlich unterwegs (hieß es bei drei Pfarreien noch "alle ein(s)(heitlich)", so ist es bei fünf nun schon unausgesprochen selbstverständlich, dass da mehr Vielfalt drinstecken muss ...
    Aber Pfennigfuchs der ich manchmal bin eine kleine Detailfrage: ist die Predigt von vor zwei Jahren, als Lukas am Palmsonntag dran war? Wir haben ja schließlich nun das Markusjahr (ich muss das wissen! ;-) )...
    Oder ist das ein weiterer Impuls in die Praxis: saisonales / jährliches Schwerpunktsetzen ...
    Drei Lesejahre mit doch deutlich anderen Schwerpunkten ... Johannes immer darüber ... haben wir eher Johannes-orientierte Gemeinden und Tätige, oder Markus-orientierte ...
    Und (was mich gerade umtreibt): welche Farben haben meine Gaben?

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    1. Danke für die Reaktion, und auch die genaue Beobachtung: die Ansprache ist aktuell, von diesem Jahr, und die Verwechslung von Markus und Lukas nicht pastoral beabsichtigt. Sondern ein Versehen. Ändert aber nichts an meiner Grundaussage.

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  2. Ein beeindruckendes Foto zum Gedankengang

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