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Montag, 10. Januar 2022

Der Himmel des kleinen Mannes

Foto: www.pixaby.de

Einer denkt, zwei von ihnen ersetzen drei von denen. Falsch gedacht. Denn Udo Jürgens bekommt den Backstage-Pass. Verdammt. Immerhin ist Herz-Jesu-Freitag, und wenigstens im Kaffee steckt Potential. Überraschende Szenen aus einer irritierenden Zwischenwelt. Mein Beitrag beim Preacher-Slam am 9. Januar 2022 in der Karl-Rahner-Akademie.

Von Peter Otten

Der Herr Kardinal stand hinter der Theke. Gedankenverloren
hielt er ein kariertes Geschirrtuch in den Händen und drehte ein langstieliges Weinglas darin. Behutsam stellte er es in einem Regal hinter sich ab und fischte ein neues aus dem dampfenden Bäuchlein des Tischgesirrspülers. Die Rückwand der Theke, die verspiegelt war, zeigte die schütteren Streifen seines Haars, die sich von links nach rechts über seinen Schopf legten. Dazwischen ragten Spirituosenflaschen wie die Türme von Miniaturkirchen hervor. Sie trugen Namen wie „Prinz Alte Marille“, „O´Donnel Moonshine“ oder auch „Hexenzauber Blutwurz“.

Hinter den mit dunklem Leder bezogenen Hockern begann eine ausladende Tanzfläche. An der linken Seite befand sich ein schwarzlackierter Flügel. Der Herr Kardinal beobachtete Udo Jürgens, der in einen Bademantel gewickelt mit aufrechtem Rücken federnd auf einem Klavierhocker saß. Offensichtlich stand er heute auf dem Dienstplan. Seine Finger glitten über die Tasten. Und wie er es zu seinen Lebzeiten in unzähligen Musik-ist-Trumpf-Folgen schon immer getan hatte, hatte er auch heute seinen Kopf um neunzig Grad abgewinkelt und blickte mit großen Udo-Jürgens-Augen in ein nicht vorhandenes Publikum. Es war Wunschstunde, und offensichtlich hatte ein älterer Herr sich ein Stück gewünscht, dass Jürgens nun in dieser unnachahmlichen *miiooommiiiioooom* - Udo-Jürgens-Art auf die Tanzfläche goss, die um diese Zeit noch fast leer war: „Ein Stern, der deinen Namen trägt, den wünsch ich mir heut Nacht.“

Der Herr Bischof, der Eintänzer

Der Herr Kardinal sah den Herrn Bischof. Er schob eine kräftige Frau über das Tanzparkett. Sie hatte ihren Kopf, den eine leicht milkafarbene Haarwolke umschloss, auf seine Schulter gelegt. Der Herr Bischof blickte ausdruckslos an die gegenüberliegende Wand. Eins, zwei, Wie-ge-schritt. Das geschah ihm Recht, dachte der Herr Kardinal grimmig und rieb mit dem Geschirrtuch derart heftig an einem Cocktailglas, als wolle er einen Heiligen Flaschengeist beschwören. Seit seinem Ableben musste der Herr Bischof als Eintänzer in diesem Schuppen arbeiten. Und in der täglichen Tanzsteestunde nahm er zahllose Tanzkarten von zahllosen unerlösten einsamen Herzen entgegen. Vor allem Frauen. Aber nicht nur. Haha! Der Herr Kardinal grinste. Nicht nur. „Vor 20 Jahren waren wirklich nur Geistesgestörte der Ansicht, Gleichgeschlechtliche können eine Familie bilden.“ Hatte der Herr Bischof das nicht mal gesagt? Im Fernsehen? Nicht dass der Herr Kardinal ihm das übel genommen hätte, das nicht. Aber er bemerkte dennoch, dass an dem Sprichwort „Schadenfreude ist die beste Freude“ etwas dran war, wenn Rudolf Mooshammer gewöhnlich donnerstags kurz reinschneite, ihm, dem Herrn Kardinal, seine Daisy in den Arm drückte und auf ihn, den Herrn Bischof zustürmte, ihn auf beide Wangen küsste und ihn mit großer ausladender Geste aufs Tanzparkett schleppte.

Das war ja das Vertrackte. Mooshammer konnte nach jedem Tänzchen wieder gehen. Der Herr Bischof nicht. Ihm fehlte der Backstage-Pass. Vor 22 Jahren hatte er ihn beantragt. Das hatte er schon unmöglich gefunden. Er! Musste! Einen Backstage-Pass! BEANTRAGEN! Auf dem Sterbebett hatte ihm das Katholische Forum in die Hand versprochen, er werde selig gesprochen, umgehend, kein Thema, was nicht nur Backstage-Pass bedeutet hätte, sondern Quasi den All-Inclusive-Platin Pass. Zugang zu allen Räumen, Palästen, Wolken und Sternen. Flatrate im Gym. Inklusive türkisches Bad. Zugehfrau. Jede Woche frisches Bettzeug. Netflix und Disney plus inklusive Bibel TV, K-TV und Frau-TV. Aber nun lag sein Antrag bei der Einwanderungsbehörde. Und da lag er. Und lag. Und deswegen musste der Herr Bischof als Eintänzer in diesem Laden arbeiten. Tagein. Tagaus. Übergangsweise, hatten sie gesagt. Diese Brüder im Nebel, diese Halunken, dachte der Herr Kardinal und drückte seinen Rücken durch. Er hatte immerhin einen Job an der Bar ergattert. Gott sei Dank. Ihn hatten sie genau so hereingelegt, wie er fand. „Wir müssen nur kurz deine Unterlagen prüfen“ hatten sie gesagt. Nur kurz! Er lachte bitter. „Reine Routine“. Aber diese Routine dauerte nun auch schon fünf Jahre. Unverschämt. „Ich will mal so sagen“ hatte der Herr Kardinal ihnen gesagt. „Nichts geahnt, nichts geahnt, dass das hier so lange dauert!“

Der Herr Kardinal, der Barmann

Da hatten die einfach erwidert: „Wir auch nicht. Dass das so lange dauert. Mit der Aufarbeitung. Und du hast doch selbst immer gesagt, man kann nicht streng genug sein. Auf deinem Posten. Güte der Härte. Nächstenliebe ist kein Freundlichkeitsbrei. Liebe kann sehr hart sein. So Sachen. Na siehste.“ Und hatten das Rollo runtergezogen. Tschüssikowski.

Schichtwechsel bei der Musik. Udo Jürgens war aufgestanden, hatte sich mit einem Handtuch den Schweiß aus dem Gesicht gewischt und war kusshändewerfend und Merci, Cheri-singend abgegangen. Was für ein Gockel, dachte der Herr Kardinal. Auch er hatte selbstverständlich einen Backstagepass, der Sauhund. Sein Upgrade wurde gerade geprüft. Dann nährten sich aus dem Hintergrund zwei schmale Typen. Der eine mit Schiebermütze und Fusselbart, der andere mit ner Pilotenbrille. Ach du lieber Himmel! Rio Reiser und George Michael. Der nuschelnde Weltverbesserer und die Heulboje. Der König von Deutschland und der Weihnachtsmann. Ausgerechnet die hatten hier Gefallen aneinander gefunden. Und traten als Duett auf. Sachen gabs, dachte der Herr Kardinal und seufzte.

Herz-Jesu-Freitag

„Ich hätte gern einen Milchkaffee.“ Eine heisere Stimme war plötzlich in seinem Rücken. Derr Herr Kardinal fuhr herum. Ein dürres müdes Männchen lehnte plötzlich an seiner Theke. Der Herr Jesus! Er sah so aus, als sei er die ganze Nacht auf einer Hochzeit gewesen, bei der der Wein besser gewesen sein musste als sein Ruf. Er legte seine alte Aktentasche auf die Theke und blickte gedankenverloren auf das Flaschenregal und musterte die Etiketten. Der Herr Kardinal ließ dienstbeflissen die Kaffeemaschine brausen und zischen *pischpischrrrchr*, die braune Flüssigkeit quoll langsam aus dem Ventil in eine Tasse. Zum Schluss zauberte der Herr Kardinal einen segnenden Heiland, der auf einem Herzen sitzt in die Tasse. Barista-Kurs. Gelernt war gelernt. Und heute war schließlich Herz Jesu Freitag.

Der Herr Jesus warf zwei Stück Zucker in die Tasse, und mit ihnen versank auch der segnende Heiland in der braunen Tiefe.

„Ich habe Kopfweh“ brummte der Herr Jesus und akzeptierte den Kaffee mit einem Kopfnicken.

„Ich will mal so sagen“ sagte der Herr Kardinal. „Ich auch.“ Er zögerte und spielte mit der Zuckerdose. „Sogar Udo Jürgens hat einen Backstage-Pass bekommen. Obwohl die Nummer mit dem ehrenwerten Haus seinerzeit jetzt nicht gerade katechismuskompatibel gewesen ist. Von seinen ganzen Weibergeschichten, da will ich gar nicht reden!“ Er wurde ganz aufgeregt. „Ich will mich ja gar nicht beschweren. Aber findest du es nicht merkwürdig, wer hier alles seelenruhig rumläuft? Willi Herren? Gunter Sachs? Die waren nicht mal katholisch. Gut, das mit den vielen Protestanten, die sich hier alle oben auf dem Sonnendeck aalen – nun ja, ich will nicht übertreiben, aber es sind doch schon sehr viele - das musst du selber wissen. Die haben ja nicht mal Priester. Kirche ohne Priester – ich habe immer gedacht, das gibt’s nicht. Das geht gar nicht. Tja.“

Der Herr Kardinal nahm das Spültuch in die Hand und wischte über die Theke. 

Einer von uns ersetzt drei von denen

„Da setzt sich unsereiner jeden Tag, den du, Herr Jesus, ins Land gehen lässt treu das Birett auf. Ich habe nicht EINMAL das Stundengebet verpasst. Ich habe meinen Dom verteidigt gegen dieses Bügelperlenbild von diesem Schmierfink aus Dresden. Ich wollte eine anständge Maria wie sich das gehört. Von mir aus auch eine Edith Stein. Kein Problem. Und dann komme ich hier an und denke, dir Herr Jesus, ersetzt einer von uns, der Herrn Bischof oder der Herrn Kardinal - drei von denen Dahergelaufenen.“

Rudolf Mooshammer winkte durch die Tür. Strahlend wie immer. Einen Seidenschal um seinen Hals gewickelt. Der Herr Bischof blickte ihm missmutig entgegen. Er wusste, was jetzt kam. Daisy kläffte schon von weitem.

„Siehst du das? Weißt du, was ich meine, Herr Jesus?“ fragte der Herr Kardinal eifrig. „Warum die – und wir müssen hier schuften – als Eintänzer und Barmann! Lass es mich mal so sagen: Dort, wo der Himmel vom Kultus, von der Verehrung der Gottesmänner abgekoppelt wird, erstarrt der Himmel in beliebiger Folklore und entartet“, sagte der Herr Kardinal. „Findest du nicht?“

Der Herr Jesus hatte seinen Kaffee ausgetrunken. Und leckte mit der Zungenspitze den allerletzten Schaum vom Tassenrand. Dann blickte er dem Herrn Kardinal direkt in die Augen. Müde, aber fest.

„Nö“. Sagte er. „Finde ich nicht.“ Dann stellte er die Tasse auf den Unterteller, wobei der Löffel leise klirrte. „Aber dein Kaffee ist super, wirklich. Die Crema, sehr fein. Gutes Aroma. Best coffee in town. Aus dir wird noch was. Ich bin da ganz entspannt.“ Sagte er und klopfte dem Herrn Kardinal auf die Schulter.

Dann klappte die Tür, und er war weg. „…würd ich machen, wenn ich König von Deutschland wär“, sang Rio Reiser. Rudolf Mooshammer und der Herr Bischof tanzten so etwas wie einen Freedance. Sie hopsten durch den Saal. Der Herr Kardinal fingerte nach einem Longdrink-Glas. Er betrachtete die Flasche, die er in der Hand hielt. Hexenzauber Blutwurz. „Das ist der Himmel des kleinen Mannes, gebrannt aus 66 Kräutern“ las er auf dem Etikett und schraubte den Deckel von der Flasche.

1 Kommentar:

  1. Das Christentum muss im Sinne von C. G. Jung erneuert werden. Bitte googeln: Manifest Natura Christiana

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