Von Peter Otten
Heute singen und hören wir eine Totenmesse. Totenmessen sind nicht mehr selbstverständlich. Trauerfeiern finden heute meistens in der Trauerhalle statt. In Köln dürfen sie nicht länger als 30 Minuten dauern, es sein denn, die Angehörigen bezahlen die doppelte Gebühr. Besonders traurig sind Trauerfeiern ohne Angehörige. Das kommt nicht selten vor. Der Verstorbene ist sehr alt geworden, seine Freunde sind schon lange tot, vielleicht ist er oder sie verwitwet, keine Kinder da. Oder Menschen sind vereinsamt in ihrer Wohnung verstorben.
Wenn es möglich ist hänge ich in diesen Fällen an die Haustür des Hauses, in dem der Mensch zuletzt gewohnt hat einen Zettel und lade die Nachbarn zur Beerdigung ein. Noch nie ist niemand gekommen. Meistens freuen sich Nachbarinnen und Nachbar. „Ich hab mich gefragt, was mit der Dame passiert ist“, sagte mal eine. „Die Polizei hat mir nichts gesagt. Jetzt kann ich mit der Geschichte abschließen.“
Manchmal haben Verstorbene ihr Begräbnis testamentarisch verfügt. Einmal kamen wir mit dem Sarg zum Grab. Dort brannten Kandelaber, wunderschöne Blumen standen bereit. Und ich hab die Gebete gesprochen, Gedanken zu der Verstorbenen formuliert – obwohl niemand zugehört und mitgebetet hat. Ich finde: Jeder hat 15 Minuten Aufmerksamkeit verdient. Jeder Mensch hat verdient, dass im Tod die Welt für ein paar Augenblicke still steht.
Auch wenn nicht jeder Mensch eine Totenmesse gesungen und gelesen bekommt. Deswegen: Vielleicht singen und beten wir dieses Requiem für all diese Menschen. Für den Mann, der in seiner kokelnden Wohnung erstickt ist. Für die Menschen, die ohne Obdach leben und ohne Obdach sterben. Für die Kinder, die in diesem Jahr in den Kriegen getötet worden sind. Aber auch für die Menschen, die Sie alle zurücklassen mussten. Für die Menschen, an deren Grab Sie gerne ein Licht aufstellen würden, aber das Grab ist in einer anderen Stadt oder Sie wissen gar nicht mehr, wo das Grab ist oder Sie haben es einfach nicht geschafft. Wenn gleich der letzte Ton verklungen ist, dann können Sie an der Osterkerze ein Licht entzünden und es stellvertretend für alle Gräber an dem Grab von Peter Joseph Roeckerath abstellen. Wenn Sie möchten.
Wie wunderbar, dass wir in der düsteren Jahreszeit all die Lichterfeste feiern. Allerheiligen – das Fest, was davon erzählt, wie Gott alles, was lebt so anschaut, wie wir Menschen es uns wünschen und wie wir es doch oft nicht schaffen: heilig, über alle Maßen wertvoll, geliebt. Allerseelen, das Fest, was davon erzählt, dass die Liebe gewinnt. Selbst da, wo sie zerbricht, selbst da, wo Banden zerreißen. Selbst da, wo wir Menschen sie fahren lassen, aus der Hand geben müssen. St. Martin, das Hoffnungsfest des „Trotzdem!“ – wo einer gibt, was er geben kann, obwohl etwas in ihm vielleicht zweifelnd sagt: "Was bringt das?" Wo einer sein Herz sprechen lässt gegen alle flüsternden Geister der Vergeblichkeit. In zwei Wochen schon der erste Advent, die erste Stufe auf dem Weg zum großen Lichterfest Weihnachten, wo aus vier kleinen Lichtern ganze strahlende Bäume werden. Dem Fest, wo Gott – jauchzet, frohlocket - sich ganz und gar auf die Seite der geschundenen Kreaturen stellt.
Der kurze Text aus dem Lukasevangelium, den wir gerade gehört haben, ist ein Hoffnungstext. Und es stimmt ja: So viele Lichter stehen unter einem Gefäß. Der Vater, der immer den Sohn anruft und sich nach ihm erkundigt, weil er Angst hat, wenn er das nicht tut, würde er vielleicht merken, wie zerbrechlich er inzwischen ist. Ein Licht unter einem Gefäß. Manche kennen die Kassiererin im Supermarkt, die beflissene Verkäuferin in der Bäckerei oder den Schneider, dem ich meine Hosen bringe – Menschen, die sich ständig entschuldigen, obwohl sie wundervoll arbeiten und dazu noch freundlich lächeln. Lichter unter einem Gefäß. Die Kollegin im Betrieb mit der tollen Idee, deren Gedanken aber erst ernst genommen werden, als der Vorgesetzte sie aufnimmt und wiederholt. Lichter und Leuchten unter einem Gefäß. Angezündet, und doch unsichtbar oder übersehen. Durch Angst, Anpassung, Scham oder den Lärm der anderen. Das Kind, das Schwierigkeiten beim Lesen hat. Der Lehrer, der die Legasthenie erkennt. Der Mann, der als Vorlesepate in die Schule kommt. Lichter unter einem Gefäß. Die Damen und Herren, die in unserer Gemeinde bei Kölsch Hätz Nachbarinnen und Nachbarn aus der Einsamkeit holen, indem sie sie besuchen, mit ihnen spazieren gehen, Kaffee trinken und einkaufen. Vor ein paar Tagen habe ich eine Studentin aus der Gruppe kennen gelernt. Alle zwei Wochen geht sie bis zu drei Stunden mit einer älteren Person durch unsere Viertel spazieren. Womöglich sind Sie ihnen schon begegnet, ohne dass Sie sie kennen. Wenn ja, dann sind Sie zwei verborgenen Lichtern begegnet. Die trotzdem alles verändern.
Und Sie werden, wenn Sie jetzt nachdenken, vielleicht selbst an viele stille, verborgene Lichter denken. Und sie in Gedanken, während ich spreche, innerlich dazu stellen. Tun Sie das. Entzünden wir gemeinsam ein Meer von Lichtern.
Denn kein Licht soll verborgen sein. Sie wollen von uns entdeckt werden. Sie sollen Mut machen. Die Hoffnung stärken, dass, auch wenn es manchmal so scheint, doch nichts vergeblich ist. Dass es einen Unterschied macht, ob da ein Licht ist oder keins. Und das ein Licht dazu ermutigt, ein zweites dazu zu stellen. Holen wir die kleinen Lichter aus den Gefäßen raus und stellen sie auf einen Leuchter. Dann strahlen sie in der Kirche, ins Viertel, in die Stadt, in die Welt, in mir.
Und wo diese Lichter auf dem Leuchter stehen – da erscheint das, was der Chor heute singt, gar nicht mehr naiv und rätselhaft: „Oh Herr Jesus Christus, König der Herrlichkeit, bewahre die Seelen der Verstorbenen vor den Qualen der Hölle und vor den Tiefen der Unterwelt. Lass sie nicht hinabstürzen in die Finsternis.“ -Das können wir uns heute so übersetzen: „Oh Herr, hilf uns dabei, unsere Welt nicht schon hier zu einem seelenlosen dunklen kalten toten hoffnungslosen Ort zu machen. Wir wollen einander nicht den Tod hinhalten, sondern das Licht.“
Oder: „Befreie mich, Herr, von dem ewigen Tod an jenem Tage des Schreckens, wo Himmel und Erde wanken, da Du kommst, die Welt durch Feuer zu richten.“ Das können wir so übersetzen: „Halte mir und den Menschen, die keine Hoffnung mehr haben und denen der Schrecken alles genommen hat, dein Licht der Gerechtigkeit hin.“
Oder: „Befreie mich, Herr, von dem ewigen Tod. Befreie mich, Herr.“ – Das können wir heute so sprechen: „Nimm die Düsternis und das Sterben aus meinem Denken. Lass mich das Licht bringen, wo immer ich es kann.“
Eines meiner Lieblingslieder von der britischen Gruppe „The Smiths“ ist „There Is A Light, That Never Goes Out.“ Es gibt ein Licht, das nie ausgeht. Wenn ich mit Kindern bei uns am Ewigen Licht stehe, dann entdecken wir zusammen einen tröstlichen Gedanken. Jeder hat hoffentlich Menschen, die ihnen ein Licht auf den Leuchter stellen. Wenn das Kind Geburtstag hat. Wenn die Oma krank ist. Bei einer Prüfung. Das Licht sagt: „Ich freu mich, dass du da bist.“ Und hier in der Kirche brennt immer ein Licht für die, die niemanden haben, der das tut. Es muss aber doch einen geben, der einspringt und die Lichter hoch hält, die wir Menschen nicht mehr hochhalten. Weil wir erschöpft sind, weil wir nicht mehr können. Weil wir so sind, wie wir sind. Keine Götter, sondern Menschen. „There Is A Light, That Never Goes Out.“ Überall, wo ein Licht auf einen Leuchter gestellt wird, ist Hoffnung. Dass das Licht stärker ist, selbst da, wo wir es nicht mehr für möglich halten. „Ins Paradies mögen die Engel dich geleiten.“ Zünden wir einander Lichter an. Denn die Erzählung von unserem Weg ins Paradies, unsere Auferstehung vom Sterben, beginnt, schon heute Abend.
Nötig ist ein Christentum im Sinne C. G. Jungs. Bitte mit Yahoo suchen: Jesuanische Lebensreform
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